Ostfriesenmoor: Der siebte Fall für Ann Kathrin Klaasen (German Edition)
der Ecke saß. Sie konnte ihn so lassen, ohne dass sie ihn langweilig fand. Stattdessen nutzte sie die Zeit für ihre Kinderbuchsammlung.
Es war schon eine Weile her, dass sie den letzten ruhigen Abend miteinander verbracht hatten. Die letzten Kriminalromane hatte er gekauft, aber nicht mehr gelesen.
Jetzt, da er sah, wie sie sich abstrampelte und kämpfte, wünschte er sich umso mehr, mit ihr zu Hause im Distelkamp vor dem Kamin zu sitzen. Wenn man keinen Ausgleich hat, dreht man irgendwann durch, dachte er, und dann beginnt man, Fehler zu machen.
Doch Ann Kathrin machte nicht einfach Fehler, sondern gerade durch diese Scheibe betrachtet, wirkte sie merkwürdig fremd auf ihn, als hätte sie ein psychogenes Medikament genommen oder sei wie unter einer Glasglocke gefangen. So als wisse sie genau, was sie sagen wollte, käme aber nicht wirklich damit heraus.
Drüben im Konferenzraum, wo Ludwig Schwindelhausen seine Kidnapping-Spezialtruppe briefte, wurde es erneut laut. Diesmal war es so ein heftiges Tohuwabohu, dass Ubbo Heide zornig die Stirn runzelte. Opfer von Verbrechen durften laut klagen und schreien. Kriminelle und Besoffene randalierten. Aber das da waren nicht irgendwelche betrunkenen Rowdys, die aus dem Verkehr gezogen werden mussten, sondern das waren BKAler.
»Zwergenaufstand oder was?«, fragte Rupert.
Weller hatte schon so manchen Kriminalroman weggeworfen, wenn er darin die Formulierung fand: Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe. Manchmal hatten die Autoren das sogar witzig gemeint oder auch nur hochdramatisch. Da ging jemand fremd, man erfuhr von der Hochzeit eines Freundes oder von einem Verbrechen, und immer schlug es ein wie eine Bombe.
Aber immer hatte Weller sich geschüttelt und das Bild als völlig schräg und falsch empfunden. Wenn eine Bombe einschlug, blieben zerfetzte Leiber zurück, zerstörtes Gelände.
Doch diesmal schoss ihm dieser Satz durch den Kopf. Ja, da musste etwas heftig eingeschlagen sein. Glücklicherweise nicht wie eine Bombe, denn dann wäre von der Spezialtruppe des BKA ja nicht viel übrig geblieben. Aber etwas scheuchte die Meute auf, so dass selbst Schwindelhausen seine gentlemanlike Fassung verlor. Von seinem rechthaberischen, staatsmännischen Auftreten war nichts mehr zu spüren. Er wirkte nicht mehr wie ein Bundespräsident auf Koks, sondern er erinnerte Weller jetzt an seinen alten Deutschlehrer Hans Helmut Brinkmann, aus dessen Erste-Hilfe-Box Pornoheftchen fielen, als Wellers bester Freund beim Besuch des Schullandheims gestürzt war und seine Wunden versorgt werden mussten.
Brinkmann flatterte geradezu herum und erklärte jedem Schüler, die Heftchen seien nicht von ihm, sondern er habe sie auf der Toilette konfisziert, und der Schuldige solle sich bei ihm melden. Er versprach auch, dass es keine großen disziplinarischen Konsequenzen nach sich ziehen würde.
Es meldete sich nie jemand, doch Brinkmann gab die Suche nach dem angeblich Schuldigen nie auf. Sie wussten alle genau, dass es seine Hefte waren. Beim Abiabschluss war er dafür auch gebührend durch den Kakao gezogen worden.
Ja, genau so sah Schwindelhausen jetzt aus. Auf der Suche nach einem Schuldigen, der ihm die Peinlichkeit ersparen konnte, die ab jetzt für ewig an seinem Namen kleben würde.
Weller gönnte es ihm.
Ubbo Heide war hin und her gerissen. Sollte er sich um die BKAler kümmern, oder konnte er bei Ann Kathrin bleiben und dem Verhör lauschen? War das, was die BKA-Kollegen so aufscheuchte, vielleicht sogar so wichtig, dass er das Verhör abbrechen musste?
Dann entschied er sich schlicht und einfach, Ann Kathrin und Weller gegen das anrollende Geschehen von draußen abzuschotten. Er stieß Rupert an: »Du kommst mit mir.«
Das passte Rupert gar nicht, aber er folgte seinem Chef. Mit ausgebreiteten Armen ging Ubbo den BKAlern entgegen.
Weller sah hinter Ubbo und Rupert her. Er war froh, dass er hierbleiben und Ann Kathrin weiterhin zusehen konnte. Vielleicht hätte er jetzt sogar eine Chance, reinzugehen, dachte er.
Ann Kathrin tippte auf die Bilder von Kevin Becker und Larissa Kuhl: »Wer sagt mir, dass ich nicht eines der anderen vermissten Kinder bald ebenfalls ausgestopft finden werde?«
Frau Dr. Schmidt-Liechner legte ihren ganzen Zorn in den nächsten Satz: »Nun, was halten Sie davon, einen Hellseher aufzusuchen? Das wird doch sicherlich dem Niveau Ihrer Ermittlungen gerecht. Oder erwarten Sie von Dr. Ollenhauer, dass er einen Privatdetektiv engagiert, der Ihre
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