Ostfriesenmoor: Der siebte Fall für Ann Kathrin Klaasen (German Edition)
vorauszuberechnen.
Auf den ausgelatschten Wegen kommt man garantiert nur zu den längst bekannten Zielen, hatte Ubbo Heide gesagt und damit alle wissenschaftlich fundierten Verfahrensweisen der Fallanalyse lächerlich gemacht, fand Schwindelhausen. Dafür sollte Ubbo Heide büßen.
Das Handy meldete sich so laut, dass Weller erschrak.
Frau Müller hob abwehrend die Hände. »Ich kann das nicht! Machen Sie das!«
Weller nahm Lucys Handy und brachte es ihr. »Er hat gesagt, keine Polizei. Ich kann nicht rangehen.«
Doch Gundula Müller schüttelte sich wie ein Kind, das seinen Spinat nicht essen will. Dann presste sie die Lippen aufeinander und schien zu einer Statur zu erstarren.
Weller sah auf dem Handydisplay Unbekannter Anrufer. Er hatte Angst, die Chance auf einen Kontakt zum Entführer zu verlieren und ging ran.
»Ja?«
»Wer sind Sie?«, fauchte eine ungehaltene Stimme. Es war ein Mann. Weller schätzte ihn auf Anfang dreißig. Kurzatmig. Vielleicht war er gerannt oder ein Asthmatiker. Es gab hier an der Küste wegen des Reizklimas Lungensanatorien. Hatte Weller jemanden am Apparat, der von der Krankenkasse hierher geschickt worden war? Eine astreine Tarnung für einen Entführer: Eine Kur!
Weller hörte den Wind pfeifen, und der Mann hielt sich etwas vor den Mund. Ein Spaziergänger? Mit einem Wollschal, der am Deich mit dem Handy telefonierte? Verdammt clever … Da war Möwengeschrei.
»Ich heiße … Philipp. Philipp Müller«, sagte Weller.
»Wer sind Sie, verdammt?! Ich will Lucy sprechen!«
»Ich bin ein Onkel von Lucy. Ich mache hier Urlaub, bin vorbeigekommen und habe diese schockierende Situation vorgefunden«, log Weller.
Ubbo Heide stand Kriminaldirektor Ludwig Schwindelhausen wie im Duell gegenüber. Zwischen ihnen war nur der Besprechungstisch mit den Sanddornkeksen und dem Krintstuut, in dem die Rosinen vertrockneten.
Die anderen hatten sich im Kreis um die beiden Männer aufgebaut.
Püppi konnte nicht still stehen. Sie tänzelte herum wie eine Boxerin, bevor der Kampf um die Meisterschaft beginnt. Rieke Gersema bohrte unauffällig in der Nase.
Sie alle lauschten dem Gespräch.
Ubbo Heide hob den Daumen der rechten Hand. »Bravo, mein Junge«, lobte er Weller vor allen anderen, weil er seine Finte clever fand. Der Entführer fiel offenbar darauf herein.
»Sie wissen also Bescheid?«, krächzte der Entführer, dem der ostfriesische Wind offensichtlich voll in den Mund fuhr.
»Ja, wie sollte mir die Entführung verborgen bleiben?«
»Ist das Geld bereit?«
Weller atmete tief durch und stellte eine Gegenfrage: »Leben Tina und Ina noch?«
»Ja, verdammt, aber nicht mehr lange, wenn Sie mich verarschen!«
Weller vermutete, dass der Mann sich umgedreht hatte und jetzt nicht mehr gegen den Wind lief, sondern ihn im Rücken hatte. Er wurde das Bild nicht los von einem Mann, der am Deich auf und ab ging.
»Werden die Kinder versorgt?«
»Ja, klar. Sie werden gefüttert und sauber gemacht.«
»Kochen Sie das Wasser für den Tee auch richtig ab? Ina hat eine Karottenallergie. Wie viel Gramm hat Tina gegessen? Nimmt sie das Fläschchen an? Beide Kinder sind es gewohnt, natürlich gestillt zu werden. Geben Sie ihnen die Brust?«
Gundula Müller glotzte Weller ungläubig an. Von so einer Allergie wusste sie gar nichts.
»Was macht der?«, fragte Kriminaldirektor Schwindelhausen in die Runde. »Was soll der Scheiß?«
Aber Ubbo Heide strahlte, und Rieke Gersema grinste süffisant. Es wurden gerade alle Zeugen von Wellers geschickter Gesprächsführung. Irgendwie war das ein Triumph für Rieke, ja, die ostfriesische Kriminalpolizei an sich, fand sie.
»Er verstrickt ihn, weist ihm Verantwortung zu und macht ihm klar, dass es Menschen sind, die geliebt werden. Keine Sachen, die man einfach so stehlen und wegwerfen kann!«, erläuterte Ubbo Heide.
»Außerdem hält er ihn hin, damit wir ihn orten können«, fügte Rieke Gersema spitz hinzu.
»Wenn die Kohle nicht bald da ist, kann ich die kleinen Scheißer ja ein bisschen schreien lassen. Beeilen Sie sich lieber. Noch bin ich freundlich. Aber ich kann auch anders.«
»Ich bringe Ihnen das Geld, wohin Sie wollen«, sagte Weller, und es klang wie ein Versprechen, auf das man sich verlassen konnte.
»Sie bringen mir gar nichts, sondern Lucy.«
Jetzt wollte Gundula Müller plötzlich doch das Telefon. Sie kämpfte mit Weller regelrecht darum. Er hatte Mühe, sie sich vom Leib zu halten, ohne sie zu verletzen.
»Geben Sie ihn
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