Ostfriesenmoor: Der siebte Fall für Ann Kathrin Klaasen (German Edition)
nicht gezwungen, du Idiot! Im Gegenteil! Sie hat mich gebeten, dich ganz langsam sterben zu lassen, ganz langsam! Ich persönlich hätte dich ja lieber einfach erledigt, aber sie will, dass du leidest!«
Dann wendete Schacht sich ab, ließ Müller einfach liegen und bewegte sich in Richtung Deichkamm. Für einen kurzen Moment keimte Hoffnung in Wolfgang Müller auf. Das hier musste noch nicht das Ende sein. Vielleicht hatte er eine Chance, sich zu befreien. Wenn er hier so liegenblieb, dann hatte er eine Frist von mehreren Stunden, bis das Meer kommen würde, und selbst dann, vielleicht könnten die seichten Wellen ihn an Land spülen. Er war keine zwanzig Meter von der betonierten Deichbefestigung entfernt.
Schacht verschwand hinterm Deich.
Schrei jetzt noch nicht um Hilfe, sagte Wolfgang Müller sich, jetzt noch nicht. Warte, bis er angefahren ist. Und auch dann spar Kraft. Du darfst jetzt nicht mehr ohnmächtig werden. Vielleicht wirst du ein Auto hören. Vielleicht kommen Radfahrer. Ein Nachtangler. Oder ein Liebespärchen.
Ihm wäre jetzt jeder drogensüchtige Penner recht gewesen. Hauptsache irgendeiner, der mit ihm keine Rechnung offen hatte, kein Hühnchen zu rupfen.
Es dauerte gar nicht lange, und oben auf dem Deich erschien eine Gestalt, die sich gegen den blauen Nachthimmel deutlich absetzte. Wer immer das war, er hatte etwas in der Hand.
Wolfgang Müller versuchte, den Schmerz zu verdrängen, und sammelte Luft, um laut zu rufen. Aber dann erkannte er, dass die Gestalt direkt auf ihn zu kam. Es war Thomas Schacht.
Zunächst glaubte Müller, dass Schacht ein Gewehr bei sich trug, aber dann wurde die Schaufel sichtbar.
Schacht schlug zunächst damit zu. Aber er zielte nicht auf Müllers Kopf, sondern auf seine Beine. Er wollte ihn nicht ohnmächtig werden lassen, sondern ihm nur Schmerzen zufügen.
Müller brüllte aus Leibeskräften.
Schacht sprach es fast sachlich aus, als würde er eine Bedienungsanleitung vorlesen: »Ich werde dich jetzt eingraben. Wenn du mir erzählst, wo du meine Kinder versteckt hast, dann überlege ich es mir vielleicht noch einmal und lasse dich am Leben. Sonst sollen dich doch die Wattwürmer und Krebse holen.«
»Es sind nicht deine Kinder, du Idiot!«, lachte Müller hysterisch. »Es sind meine Kinder, und das weißt du ganz genau!«
»Heißt das, du hast sie, Drecksack?«
Müller erkannte seine einzige Chance. »Ja, ich hab sie. Meinst du, ich lasse meine Kinder bei dir? Ich bin doch nicht verrückt!«
»Wo sind sie?«
»In Sicherheit.«
Schacht hob die Schaufel an und drohte erneut, damit auf Müllers rechtes Bein zu schlagen.
»Wenn du mich tötest, wirst du nie erfahren, wo sie sind! Nie!«
»Irrtum, mein Lieber. Es ist ganz einfach. Ich muss nur deiner Angela folgen. Sie wird mich zu den Kindern bringen.«
»Sie weiß nicht, wo die Kinder sind.«
Müller rührte mit der Zunge in seinem Mund herum. Etwas knirschte dort. Ein Zahn war herausgehauen, aber nicht völlig. Er hing noch an irgendeinem Hautfetzen oder an einer Wurzel fest. Müller versuchte, den Zahn auszuspucken, aber es ging nicht. Ein Schmerz jagte tsunamigleich durch sein Gehirn. Er hatte das Gefühl, sein Kopf sei für die Gehirnmasse zu klein geworden und es könne ihm gleich aus den Ohren herausquellen.
»Sie hat keine Ahnung! Ich bin doch nicht blöd! Ich sage der doch nicht, wo die Kinder sind! Ich will mich doch nicht erpressbar machen!«
»Netter Versuch. Aber sie versorgt die Kinder. Stimmt’s? Ich bin gespannt, ob sie in der Lage ist, so viele Schmerzen zu ertragen wie du. Man sagt ja, Frauen würden viel mehr aushalten als Männer. Ich habe keine Ahnung. So was habe ich nämlich noch nie gemacht, noch nie. Aber du zwingst mich dazu, es zu tun.«
Er zertrümmerte mit der Schaufel Müllers rechtes Knie. Das letzte, was Wolfgang Müller von dieser Welt sah, war der Sternenhimmel über Ostfriesland.
Er bekam nicht mehr mit, dass Thomas Schacht ihn im Watt vergrub, und Schacht war sich nicht einmal sicher, ob er einen Lebenden oder einen bereits Toten verbuddelte.
Jeder wird wissen, dass ich es war, dachte Thomas Schacht. Na und? Scheiß doch drauf. Sie müssen es mir nachweisen, und das wird nicht leicht.
Ubbo Heide drohte einzuschlafen, während Ann Kathrin mit ihm sprach. Das Hemd an seinem Hals war verwurschtelt und nicht richtig zugeknöpft. Der Kragen wies Schweißspuren auf.
Er hatte sich heute Morgen noch nicht rasiert, und sein starker Bartwuchs ließ sein Gesicht
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