Ostfriesenmoor: Der siebte Fall für Ann Kathrin Klaasen (German Edition)
versunken war, fuhr sie sehr langsam, so als würde sie dem Körper die mechanischen Vorgänge des Fahrens überlassen. Sie fuhr intuitiv, ohne nachzudenken, und wusste die ganze Zeit, dass sie mit ihrer Aufmerksamkeit nicht wirklich auf der Straße war. Daher tuckerte sie jetzt mit Tempo vierzig hinter einem Bus her und machte nicht den geringsten Versuch, ihn zu überholen, obwohl der Busfahrer mehrfach gewunken und ihr Signale gegeben hatte.
Hinten im Bus amüsierten sich Schüler damit, Illustriertenfotos irgendwelcher Pin-up-Girls an die Scheibe zu halten, um Autofahrer abzulenken oder zu schockieren.
Ann Kathrin nahm das nicht wirklich zur Kenntnis.
Die Zwillingsschwester von Frau Dr. Hildegard hieß Liane Reuter und war mit einem Oberstudienrat verheiratet, der am Herbartgymnasium in Oldenburg Englisch und Deutsch unterrichtete. Sie wohnte in einem gepflegten Einfamilienhaus, das Ende der siebziger Jahre gebaut worden war, mit Walmdach und offenem Kamin im Wohnzimmer. Ein typisch ostfriesischer Vorgarten mit vielen Blumen und Sträuchern. Geschätzte dreißig Schmetterlinge flatterten von den Rosen- und Hortensiensträuchern auf, als Ann Kathrin am Gartentor klingelte. Sie erwartete, das Ebenbild von Frau Professor Dr. Hildegard zu sehen, doch ihr trat eine völlig andere Person entgegen.
Zunächst glaubte sie gar nicht, dass das kleine Pummelchen mit der knabenhaften Kurzhaarfrisur überhaupt die Zwillingsschwester von Frau Professor Dr. Hildegard sein konnte. Sie trug eine dunkelblaue Latzhose und alte Danske Loppen und wirkte, als hätte sie sich in den Achtzigern als friedensbewegte Frau auf dem Weg zu einer Anti-AKW-Demo verlaufen und ihre Leute nicht wiedergefunden.
Ihre Art hatte etwas Verbindliches an sich, und Ann Kathrin mochte diese Frau sofort, die merkwürdig aus der Zeit gefallen zu sein schien.
In der Küche gab es eine Eckbank, die einen selbstgeschreinerten Eindruck machte. Eine sympathisch-altmodische Kaffeemaschine spuckte ruckweise heißes Wasser in einen Filter.
»Sie erwischen mich an meinem freien Tag, Frau Kommissarin. Was kann ich für Sie tun?«
Die Körpersprache dieser Frau war eindeutig. Dies hier war ihr Terrain. Sie hatte nichts zu befürchten und nahm das Gespräch mit der Kommissarin mehr als interessante Abwechslung.
Ohne Ann Kathrins konkrete Frage abzuwarten, brachte sie Käsekuchen auf den Tisch, zündete eine Kerze an und erklärte: »Sie kommen doch bestimmt wegen dieser versuchten Entführung damals. Glauben Sie mir, ich habe alle Fragen dazu schon zigmal beantwortet. Wir wären froh, wenn die Sache endlich aufgeklärt werden könnte. So etwas ist doch für eine Klinik immer eine unangenehme Sache. Man möchte schließlich lieber mit positiven Berichten in der Zeitung stehen. Haben Sie die Täterin inzwischen?«
»Nein, wie kommen Sie darauf?«
»Naja, wenn Sie kommen … Ich dachte, vielleicht soll sie jemand identifizieren. Also, ich habe sie damals sowieso nicht gesehen. Wenn, dann müssten Sie sich an Herrn Böckler wenden – das ist der Großvater. Er und Inken Radtke, das ist eine unserer Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerinnen, haben kurz mit ihr geredet. Die Frau hat sich als Vertretung von Schwester Anja vorgestellt.«
»Ja, das weiß ich aus den Akten. Und jetzt frage ich mich etwas, Frau Dr. Reuter. Woher wusste diese Person, dass Zwillinge in Ihrem Krankenhaus zu holen waren, und wie kam sie auf den Namen Schwester Anja? Sie müsste ja gewusst haben, dass diese Schwester an dem Tag nicht da war.«
Frau Dr. Reuter hob die Hände und ließ sie zusammenklatschen. Sie lachte laut. »Na, aber bitte, das stand in jedem Dienstplan. Schwester Anja hatte nicht nur einen kurzen Schnupfen. Sie fehlte seit fast sechs Wochen. Die Abteilung stand echt unter Druck dadurch. Wir hatten eine sehr angespannte Personalsituation, da konnte niemand auf die Idee kommen, die neue Schwester sei eine Fälschung. Im Gegenteil, wir hatten alle darauf gewartet, dass wir endlich Verstärkung bekommen. Das kann man überall gehört haben. In irgendeinem Café bei einem Sonntagsausflug stöhnt eine der Mitarbeiterinnen über die Belastung, erwähnt es eben und …«
»Ja, das kann sein. Aber die Täterin brauchte auch noch die Information, dass bei Ihnen gerade Zwillinge geboren worden waren. Denn sie hat ja nicht irgendwelche Babys mitgenommen, sondern genau die beiden Zwillinge. Und die Information muss sehr frisch gewesen sein. Hat man Sie damals gefragt, mit
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