Ostfriesenmoor: Der siebte Fall für Ann Kathrin Klaasen (German Edition)
sie sie haben konnte.«
Frau Dr. Reuter tippte mit ihrem Finger so heftig auf den Tisch, dass ihr Fingernagel zu brechen drohte.
»Ich denke, in Wirklichkeit ist sie anorgastisch und spürt überhaupt nichts dabei. Sie setzt ihre Sexualität lediglich ein. Wenn ein Mann ganz wild auf sie wird und bereit ist, alles, was er hat und besitzt, zu verlassen und für sie aufzugeben, das ist ihr eigentlicher Orgasmus!«
Ann Kathrin hatte fast Mühe, auf ihrem Stuhl sitzen zu bleiben und den Wutausbruch über sich ergehen zu lassen. Einerseits bekam sie dadurch Informationen, die ihr sonst sicherlich verborgen geblieben wären, andererseits war es schwer, diese Emotionalität auszuhalten.
»Egal, wie ich mich abgemüht habe, für alle war sie der leuchtende Stern, die Goldmarie und ich die Pechmarie, obwohl wir doch Zwillinge waren. Wenn ich also irgendjemandem bestimmt nichts davon erzählt habe, dann meiner Schwester.«
Die Luft war damit raus. Frau Dr. Reuter kam runter. Sie sah sich in der Wohnung um, als wäre sie dort fremd, lehnte sich jetzt zurück, verschränkte die Arme vor der Brust, sah Ann Kathrin mit einer Mischung aus Trotz und Vorwurf an und sagte:
»Entschuldigen Sie, dass ich so ausgeflippt bin, aber es tut immer noch weh, nach all den Jahren.«
»Würden Sie Ihre Schwester«, fragte Ann Kathrin, »als bindungsunfähig bezeichnen?«
»Ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle. Aber wenn Sie mich fragen – ja, sie ist nicht nur bindungsunfähig, sie instrumentalisiert Bindungen. Einfach nur, um sich einen Vorteil zu verschaffen, um die Beste zu sein, verstehen Sie? Das ist wie eine Sucht bei ihr, das hat nie aufgehört. Als wir klein waren, hat meine Großmutter manchmal mit uns gespielt. Mensch ärgere dich nicht und so. Das hat sie sehr bald aufgegeben. Es war ganz schrecklich. Entweder wir haben Marion gewinnen lassen, oder sie hat Heul- und Schreikrämpfe gekriegt, die Figuren durch die Küche geworfen und mit keinem mehr gesprochen.«
»Das ist nicht gerade der Weg, ein glücklicher Mensch zu werden.«
Der Satz war Ann Kathrin herausgerutscht. Sie wollte das eigentlich gar nicht wirklich sagen, aber sie kam damit bei Frau Dr. Reuter sehr gut an. Die nickte heftig und fühlte sich Ann Kathrin auf komplizenhafte Art verbunden.
»Das können Sie wohl laut sagen! Sie ist ein vom Ehrgeiz zerfressener und trotz ihrer Affären sehr, sehr einsamer Mensch. Sie kann sich nur mit Leuten umgeben, die eine Stufe unter ihr sind und die sie bewundern. Ein Kontakt auf gleicher Höhe mit ihr ist nicht machbar.«
»Haben Sie Bilder von sich beiden aus Ihrer Kindheit?«
»Ja, ich habe ein Album. Soll ich es holen? Sie können uns leicht auseinander halten. Wir sind zwar Zwillinge, sogar mit dem gleichen Haarschnitt – damals waren wir ja noch klein und konnten uns nicht dagegen wehren –, aber sie ist immer die, die sich in den Vordergrund drängt und in die Kamera grinst. Ich bin die im Hintergrund. Wollen Sie es sehen?«
Ann Kathrin verzichtete. Sie wollte sich verabschieden, aber Frau Dr. Reuter hielt sie auf: »Sie haben doch noch kein Stück Kuchen gegessen. Noch keinen Kaffee getrunken. Bitte, was stimmt denn nicht mit mir? Nehmen Sie doch ruhig! Und dann trauen Sie sich endlich, es zu fragen.«
»Was denn?«
»Na, ob sie auch etwas mit meinem Mann hatte.«
»Nein, das wollte ich eigentlich nicht fragen.«
»Ach, hören Sie doch auf. Alle Leute wollen das wissen. Und ja, sie hatte auch etwas mit ihm. Das lief ein, zwei Monate. Aber dann«, sie richtete sich auf und stand da wie ein stolzer Ritter nach einem gewonnenen Turnier. Wieder tippte sie mit dem Zeigefinger auf den Tisch. »Aber dann hat er sie verlassen und ist zu mir zurückgekehrt. Das, meine liebe Frau Kommissarin, war mein großer Triumph! Das war mein endgültiger Sieg über sie. Und ab da hatte sie hier Hausverbot, und wir haben uns nie, nie wiedergesehen.«
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Ann Kathrin, und es klang ehrlich.
Auf dem Weg zur Tür fragte Ann Kathrin noch: »Kennen Sie Herrn Dr. Ollenhauer?«
»Oh ja, und ob ich den kenne. An den hat sie sich sofort rangeschmissen. Schließlich bietet der ihr den Eintritt in die feine ostfriesische Gesellschaft. Sozusagen Backstagekarten. Der ist ein Garant dafür, dass man bei allen VIPs willkommen ist.«
»Kennen Sie die Stiftung, in der sie sich ehrenamtlich engagiert?«
Frau Dr. Reuter lachte demonstrativ. »Meine Schwester engagiert sich nirgendwo
Weitere Kostenlose Bücher