Ostfriesenmoor: Der siebte Fall für Ann Kathrin Klaasen (German Edition)
ehrenamtlich! Die engagiert sich nur für sich selbst. Die liebt auch nur sich selbst. Und wenn sie irgendetwas tut, dann garantiert nur aus egoistischen Gründen. Eigentlich ist sie eine geborene Politikerin, die würde da bestimmt Karriere machen. Und wissen Sie, warum sie es nicht tut?«
Ann Kathrin schüttelte den Kopf.
»Weil es da zu viel Konkurrenz gibt. Weil es immer einen gibt, der mehr Stimmen bekommen hat, der Ihren Posten haben will und weil jede Macht, die Sie politisch erwerben, doch nur geliehene Macht ist, die Ihnen irgendwann entzogen werden kann. Deshalb arbeitet sie jetzt mit Leichen.«
Ann Kathrin sah Frau Dr. Reuter fragend an.
Sie erklärte dann: »Haben Sie schon mal gehört, dass eine Leiche jemanden auf einen Kunstfehler verklagt hat? Wir anderen Ärzte stehen doch jeden Tag mit einem Bein im Gefängnis und laufen Gefahr, an die Öffentlichkeit gezerrt zu werden, weil irgendetwas in unserer Klinik nicht richtig gelaufen ist, weil sich jemand im Krankenhaus einen Virus gefangen hat oder auf dem frisch gewischten Boden ausgerutscht ist. Sie befindet sich in einer konkurrenzlosen Situation. Sie hat einfach gewonnen. Die anderen sind tot, und sie entscheidet, wann und wie sie sie aufschneidet. Ideal für meine Schwester. Auch wenn sie mit Leuten wie Ihnen zu tun hat, also der Kripo oder den Gerichten, immer ist sie die Fachfrau, nie die anderen. Immer sagt sie Ihnen, was passiert ist. Immer erstellt sie die Gutachten.«
»So«, gab Ann Kathrin zu, »habe ich das noch nie gesehen …«
Die beiden Frauen verabschiedeten sich, und Ann Kathrin spürte durchaus das Gefühl, ruhig noch etwas bleiben zu wollen, um sich mit ihr auszutauschen. Mit Frau Dr. Reuter hätte sie sich unter anderen Umständen vielleicht sogar angefreundet …
Erst als Ann Kathrin im Vorgarten war und beim Weg zur Straße wieder die Schmetterlinge aufscheuchte, merkte sie, wie sehr das Gespräch mit Frau Dr. Reuter sie erschöpft hatte. Am liebsten hätte sie sich im Auto einen Moment schlafen gelegt. Sie unterdrückte diesen Wunsch und fuhr zurück nach Aurich.
Nichts ist mehr, wie es einmal war, dachte Lucy. Sie fühlte sich wie im Drogenrausch. Sie wurde zum Spielball heftiger emotionaler Schwankungen. Es riss sie zwischen tiefer Traurigkeit, aufgekratzten Allmachtsgefühlen, einer erschreckenden Leichtigkeit des Seins und abgrundtiefen Hassgefühlen hin und her.
Thomas Schacht saß nur auf der Kante des Stuhls. Er hatte sich weit vorgebeugt und die Ellbogen auf die Knie gestützt.
Mit einem kleinen Tritt gegen eins der Stuhlbeine könnte ich ihm die Sitzfläche unterm Arsch wegschießen, und er würde hinknallen, dachte Lucy. Mit ein bisschen Glück bricht er sich das Becken, und wir sind ihn für eine Weile los.
Sie spielte diesen Gedanken mit einer gewissen Vorfreude durch. Wie würde ihre Mutter reagieren? Wie dieser Kommissar mit den strubbeligen Haaren?
Thomas Schacht sprach, als sei seine Stieftochter schwerhörig und randdebil. »Also, ich erkläre dir das jetzt zum letzten Mal, Lucy. Der Entführer hat unsere Kinder. Ina und Tina! – Das sind deine G e s c h w i s t e r !«
Gundula schüttelte den Kopf. Sie hasste es, wenn er so mit ihrer Tochter redete. Damit brachte er Lucy nur gegen sich auf. Warum tat er das? Er wiederholte immer Selbstverständlichkeiten, die jeder längst wusste, um dann am Ende zu Schlussfolgerungen zu kommen, die niemand wollte.
»Der wird die kleinen Würmchen töten. T ö t e n ! Verstehst du das? T ö t e n ! Und deshalb tun wir genau das, was er von uns verlangt. Wir beide fahren jetzt nach Gelsenkirchen und holen das Geld von Tante Mia. Dann übergibst du es ihm! Du! Weil er es so will! – Da lastet jetzt viel Verantwortung auf deinen Schultern, mein Kind.«
»Ich bin nicht dein Kind«, giftete Lucy, »und ich fahr ganz bestimmt nicht alleine mit dir im Auto nach Gelsenkirchen!«
Es war Weller nicht entgangen, dass Lucy geradezu allergisch auf Schacht reagierte. Er mischte sich ein: »Warum nicht?«
Lucy drehte sich zu Weller. Ihr Blick wurde versöhnlicher.
»Ich muss heute echt gut drauf sein, ich kann ihn angucken, ohne zu kotzen.«
Sie machte eine Kopfbewegung in Schachts Richtung.
»Herrgott, warum redest du so? Als ob wir nicht schon genug Sorgen hätten!«, empörte sich ihre Mutter.
Die Kleine weiß etwas, dachte Weller. Er vermutete, dass Schacht Dreck am Stecken hatte. Das hier war mehr als ein Konflikt zwischen Vätern oder Stiefvätern und
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