Ostfriesenmoor: Der siebte Fall für Ann Kathrin Klaasen (German Edition)
hereinwehen.
Ich mag die Stängel mit den weißen Wollschöpfen, wenn sie sich im Wind hin und her bewegen. Manchmal schneide ich ein bisschen Wollgras ab und bringe es in die Wohnung. Aber ich kann es gar nicht leiden, wenn die weißen Fäden an meinen Püppchen kleben. Sie sollen nicht beschmutzt werden, weder vom Samen der Blumen noch irgendeinem anderen Lebewesen. Ihr sollt rein bleiben, meine Freunde.
So, Tina und Ina, jetzt werde ich euch die gesamte Puppengalerie zeigen. Ihr werdet staunen.
Seht nur!
Nun öffne doch die Augen, Ina. Ina!
Eines Tages könnt ihr auch da sitzen, zwischen diesen herrlichen Puppen, zufrieden und in göttlicher Ordnung. Ihr werdet keinen Hunger mehr haben und keinen Durst. Es wird euch gutgehen, eingehüllt in Liebe. Ich bin eine gute Puppenmutter …
Ina, nun mach doch die Augen auf! Sind deine Lider so verklebt, dass du sie nicht mehr öffnen kannst? Warte, ich werde dir einen Blick in deine Zukunft ermöglichen.
Beates Herz klopfte so heftig, dass sie es im Hals spürte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zum letzten Mal so aufgeregt gewesen war.
Ihre Freundin Silke hatte ihre Behandlungsräume in einem ganz normalen Achtfamilienhaus in Leer. Es war nicht im Keller, wie man vielleicht vermuten könnte, sondern im vierten Stock oben links. Auf der anderen Seite wohnte die streng religiöse Familie Storch.
Es gab zwar einen Fahrstuhl, aber Beate lief lieber zu Fuß hoch. Der Gedanke, zwischen zwei Stockwerken hängenzubleiben und von der Feuerwehr befreit werden zu müssen, schoss ihr durch den Kopf und behagte ihr gerade überhaupt nicht.
Es gab unten eine Sprechanlage, aber trotzdem öffnete Silke oben ihrer Freundin, die völlig außer Atem war, nicht sofort. Sie vergewisserte sich immer erst durch den Spion an der Tür, ob nebenan bei den Storchs auch niemand glotzte. Was nämlich dem Rest der Familie entgangen war, hatte der fünfzehnjährige Sohn längst bemerkt, und seit er glaubte zu ahnen, was nebenan abging, vernachlässigte er seinen Sport, hing stattdessen in der Nähe der Tür herum und versuchte, einen Blick zu erhaschen. Er vermutete, weil in der Wohnung ständig Menschen ein und aus gingen, die jeweils nur eine Stunde blieben und danach mit entspanntem Lächeln das Haus verließen, dass Silke eine Art Privatbordell betrieb.
Zweimal hatte er schon mit fadenscheinigen Argumenten bei Silke geklingelt. Einmal wollte er sich eine Fernsehprogrammzeitschrift leihen. Ihre war angeblich aus dem Briefkasten geklaut worden. Sie bezweifelte, dass der Sohn überhaupt fernsehgucken durfte, denn so, wie sie seine fundamentalistischen Eltern einschätzte, war das für die Teufelskram.
Aus Silkes Wohnung roch es nach Moschus. Beate umarmte ihre Freundin kurz.
Silke hatte die Haare straff nach hinten gekämmt und zu einem Knoten zusammengebunden, aus dem ein Schwänzchen wippte. Sie hatte nichts Meisterhaftes oder Erleuchtetes an sich, und genau das mochte Beate an ihr. Sie war auf eine verblüffende Art bodenständig, während sie sich mit Spiritualität beschäftigte.
Sie war freundlich und sprach mit leiser, warmer Stimme: »Ich habe nebenan einen Gast.«
Dann flüsterte sie: »Er ist ziemlich bekannt.« Es schwang ein bisschen Stolz in ihrer Stimme mit. »Einer der bedeutendsten Architekten unseres Landes. Er hat zig Angestellte, die vor ihm buckeln. Auf ihm lastet ein ungeheurer Erwartungs- und Erfolgsdruck. Hier darf er sein, wie er ist.«
»Und du meinst, ich darf wirklich so einfach mit dabei sein?«
Silke lächelte fröhlich: »Natürlich. Wir kennen uns lange und gut. Nils ist ein prima Kerl. Reiki hat sein Leben verändert. Er kommt einmal pro Woche. Wir kennen uns auch privat ganz gut. Ich war mit ihm auf seinem Segelboot. Er ist schwerreich. Nils Renken. Hast du nie von ihm gehört?«
Beate schüttelte den Kopf. »Ich interessiere mich nicht für Architektur.«
»Na, ist ja auch egal. Atme jetzt erst mal tief durch und lass alle Sorgen und allen Ärger, der dich quält und bedrückt, einfach fallen. Lass es hier in den Boden hineintropfen, der hat schon viel erlebt und kann damit gut umgehen. Und wenn du dich danach fühlst, dann komm einfach rüber zu Nils.«
Sie deutete ins Nebenzimmer. Die Tür stand einen Spalt offen. Auf einer Massageliege lag unter einer leichten Decke ein Mann. Nur seine Füße und sein Kopf ragten heraus.
Die erste Stunde über schwiegen sie verbissen. Lucy hatte ihren Kopfhörer auf und hörte über ihren
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