Ostfriesenmoor: Der siebte Fall für Ann Kathrin Klaasen (German Edition)
höchstens zehnjähriges Kind mit Glatze kam ihnen auf dem Flur entgegen. Mit der rechten Hand schob es eine Stange, an der ein Beutel hing. Der Tropf führte in den Arm des Jungen. Sein Gesicht sah aus wie das eines Fünfzigjährigen, aber er strahlte und wirkte wie ein weiser Mensch auf dem Weg zur Buddhaschaft. Lucy hatte das Gefühl, der Junge könne ihr tief in die Seele schauen und hätte das Wissen der Menschheit in sich gespeichert.
Tante Mia redete überhaupt nicht über ihre Krankheit. Sie war nur besorgt um die beiden Kinder, und selbstverständlich war sie bereit, alles zu geben, was sie besaß, um die Zwillinge zu retten.
Immer wieder sagte sie: »Ich kann nicht verstehen, warum Menschen so etwas tun.«
In Tante Mias Beisein stritten sich Lucy und Schacht nicht. Überhaupt brachte das Krankenhaus sie dazu, ruhiger und friedlicher zu werden. Sie gingen geradezu höflich und rücksichtsvoll miteinander um. Angesichts dessen, was hier im Krankenhaus geschah, kamen ihnen ihre Streitereien unangemessen, ja, lächerlich und überflüssig vor.
Tante Mia hatte mit der Sparkasse telefoniert, und in dieser schwierigen Situation war ein Bankangestellter bereit, mit dem Bargeld ins Krankenhaus zu kommen. Es war ein höflicher junger Mann. Er sah aus wie zwanzig, war aber schon Anfang dreißig. Er trug ein blütenweißes Hemd und eine sparkassenrote Krawatte. Er roch nach Currywurst und Pommes, seiner Lieblingsmahlzeit, die er mindestens dreimal pro Woche aß, ohne davon auch nur ein Kilo zuzunehmen.
Er hatte alle möglichen Papiere und Unterlagen mitgebracht und nachdem Tante Mia sie unterschrieben hatte, wünschte er Lucy und Herrn Schacht alles Gute. Er überreichte ihnen das Bargeld in einem seriös aussehenden, schwarzen Täschchen aus Kunstleder mit der Aufschrift Sparkasse .
»Ich bin über alles informiert. Sie können auf mein Stillschweigen zählen.«
Schacht, der Bankern immer nur misstraut hatte, musste für sich selbst feststellen, dass er diesem Mann sein ganzes Vermögen sofort anvertraut hätte. Leider besaß er keins – noch nicht.
Allerdings war der Currywurstliebhaber kein wirklicher Sparkassenangestellter, sondern ein aufstrebendes Talent des Bundeskriminalamtes. Geschult für Undercovereinsätze und Sondermaßnahmen. Er war nicht nur besonders sportlich, sondern in seiner Freizeit trat er als Hobbyschauspieler auf. Seit seiner Kindheit spielte er Rollen in der Theatergesellschaft Preziosa 1883 e.V. Er wäre ebensogut in der Lage gewesen, König Lear zu geben oder den Dorfrichter Adam aus dem »Zerbrochenen Krug«.
Die Geldscheine waren präpariert. Man konnte es mit bloßem Auge nicht sehen, doch jeder, der sie berührte, hatte danach eine Chemikalie an den Fingern, die unter besonderem Lichteinfluss violett leuchtete. Und im Innenfutter der Sparkassentasche war ein kleiner Sender eingenäht, der Brocken und Püppi nicht nur erlaubte, die genaue Position zu bestimmen, sondern auch, mitzuhören, was im näheren Umkreis gesprochen wurde.
Das alles war nicht ganz legal und durch richterliche Beschlüsse nicht abgedeckt, aber wie Schwindelhausen vor dem internen Kreis gern betonte, war ihm das scheißegal, wenn es darum ging, das Leben der entführten Kinder zu retten.
»Wenn wir die Kinder heraushauen und die Typen hinter Schloss und Riegel sitzen, werden sowieso die Klugscheißer kommen, und wir sehen hinterher aus, als wären wir die Verbrecher. Das ist nun mal so und darf uns jetzt nicht daran hindern, zu tun, was getan werden muss, um die Kinder zu retten.«
Brocken und Püppi befanden sich bei der Geldübergabe auf dem Parkplatz vor dem Musiktheater im Revier. Nur wenige hundert Meter Luftlinie vom Ort des Geschehens entfernt. Ab jetzt würde ihnen die Verfolgung der beiden sehr leicht fallen. Sie konnten ihnen mit ein, zwei Kilometer Abstand in Ruhe folgen. Wie sollte das jemals auffallen?
Brocken stand auf Püppi. Er liebte die Art, wie sie Männer eiskalt abfahren ließ. Die Schärfe, wie sie Grenzen zog. Das alles erinnerte ihn an seine Mutter, die mit einem großen, leeren Kühlschrank, auf höchste Gefrierstufe eingestellt, viele Gemeinsamkeiten gehabt hatte.
Lucy küsste ihre Tante, bevor sie gingen. Schacht reichte ihr nur die Hand und hatte danach das dringende Bedürfnis, die Desinfektionsmittel des Krankenhauses benutzen zu müssen. Zum Glück hing hier vor jeder Tür ein Spender.
»Krebs ist nicht ansteckend«, sagte Lucy, »und ich hoffe, Blödheit auch nicht,
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