Ostfriesenmoor: Der siebte Fall für Ann Kathrin Klaasen (German Edition)
diese Schuld nie wieder loswerden würde. Ab jetzt war sie in der Familie richtig der Arsch. Das spürte sie mit jeder Faser ihres Körpers.
Niemals würde ihre Mutter ihr das verzeihen.
Sie hatte nur eines der beiden Mädchen. Aber das konnte sie mühelos in ihrer Handtasche verschwinden lassen.
Es war alles blitzschnell gegangen. Sie hatte das Kind aus dem Wagen gehoben und war dann an der Ecke in Richtung Volkshochschule und Bibliothek kurz stehen geblieben, um es zu verstauen. Ironischerweise lag direkt gegenüber das Polizeipräsidium.
Sie sah zwei Beamte aus dem silber-blauen Fahrzeug steigen. Sie scherzten miteinander. Sie würden sich später nicht an sie erinnern.
Am liebsten hätte sie den Kinderwagen genommen und wäre damit losgerannt. Doch so ein Zwillingswagen war viel zu auffällig.
Sie war mit ihrem Auto schon an der Ampel, als sie den Schrei in der Osterstraße hörte.
Das andere hole ich mir auch noch, du blöde Schlampe. Da kannst du kreischen, solange du willst. Und am Schluss hole ich mir deine große Tochter. Das wird der Urlaub deines Lebens. Den wirst du nie vergessen.
Das Baby in der Tasche rührte sich nicht. Sie bekam Angst, das Kind könne erstickt sein und rüttelte an dem Shopper auf dem Beifahrersitz. Endlich kamen ein paar Töne. Ein jämmerliches, kurzatmiges Weinen.
Rupert liebte diesen alten Mercedes. Die Sitze waren aus weißem Leder. Das Armaturenbrett eine Spezialanfertigung aus Mahagoniholz.
Sie hatten den Wagen vor zwei Jahren beschlagnahmt. Eine Leiche hatte darin gelegen, und im Rücksitz hatten sich fünf Kilo Kokain befunden. Seitdem gehörte das Fahrzeug zur Dienstflotte der Kripo.
Ann Kathrin weigerte sich, »diesen bourgeoisen Schlitten« zu fahren. Rupert wusste nicht, was »bourgeois« bedeuten sollte. Er kannte Bordeaux und einen salzigen Käse aus der Bourgogne. Beides mochte er gern.
In diesem Wagen fühlte er sich wie ein anderer Mensch. Wenn er hinter dem Steuer saß und über den Kühler auf den Stern blickte, dann gehörte die Straße irgendwie ihm. Schon das Einsteigen war ein Genuss. Die Türen machten nicht Klack-Klack , sondern Plopp . Es war nicht dieses öde, nachgemachte BMW- Plopp, sondern ein sattes, tiefes Plooopp .
So wollte er Frauke beim nächsten Mal abholen. Nichts sprach dafür, dass dies ein Dienstwagen war, der eigentlich für Undercover-Ermittlungen im Rotlicht-Milieu eingesetzt werden sollte, was aber nie geschehen war. In so einem 156-PS-Auto kam einer wie er erst richtig zur Geltung, fand Rupert.
Wenn er an Frauke dachte, spürte er ihre saugenden Lippen und konnte ihre Haut schmecken.
Er war schon auf der B 72 zwischen Großefehn in Richtung Rhauderfehn, als ihn der Anruf erreichte. Er wollte mit dem Vater von Jule Freytag reden, aber daraus wurde erst einmal nichts.
»Komm sofort zurück. In Norden ist praktisch neben unserer Dienststelle ein Baby aus dem Kinderwagen gestohlen worden«, sagte die Kollegin aus der Einsatzzentrale, die er gerne Bratarsch nannte, was sie genau wusste.
»Was heißt, komm zurück? Ihr Pfeifen! Soll ich jetzt nach Aurich oder nach Norden?«, blaffte er zurück.
»Nach Aurich, aber bring ein paar Fischbrötchen mit.«
»Okay.«
»Nein, Mensch, das war ein Witz! Natürlich musst du nach Norden, in die Osterstraße.«
Er fühlte sich von ihr zurechtgewiesen und wollte das nicht auf sich sitzen lassen. Deshalb belehrte er sie: »Kinder werden nicht gestohlen, sondern entführt.«
Sie pustete. Er mochte ihre Art, manchmal während des Gesprächs ins Mikrophon zu blasen, überhaupt nicht. Er schützte manchmal sein Gesicht oder hielt die Luft an, als hätte er Angst, von Grippeviren angesteckt zu werden.
»Ja, sind wir hier in der Volkshochschule?!«, polterte sie zurück.»Du redest schon wie Ann Kathrin! Bei der hat man auch ständig das Gefühl, an einem Deutschkurs teilzunehmen, statt an einem Gespräch.«
»Das hier ist nicht einfach ein Gespräch …«
»Genau!«, lachte sie bitter. »Es ist eine Dienstanweisung, und der würde ich Folge leisten, aber subito!«
Sie freute sich. Er konnte sie praktisch grinsen sehen.
Er nahm die nächste Ausfahrt und fragte sich zwei Dinge. Erstens: Wieso wird hier so viel Mais angebaut und zweitens: Rede ich – verdammt nochmal – wirklich inzwischen wie Ann Kathrin?
Rupert mochte nämlich Ann Kathrins Art, auf eine korrekte Sprache zu achten, ganz und gar nicht. Wie oft hatte sie ihn verbessert und damit furchtbar auf die Palme gebracht?
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