Ostfriesenmoor: Der siebte Fall für Ann Kathrin Klaasen (German Edition)
Immer war mindestens einer von ihnen beim Kinderwagen.
Irgendwann, dachte sie, werden sie in ein Geschäft gehen und den breiten Kinderwagen nicht durch die Tür kriegen. Das ist dann meine Chance.
Lucy Müller hielt ihr Leben für einen einzigen Alptraum. Sie hatte keine Ahnung, dass der eigentliche Horrortrip erst heute beginnen würde. Genau hier. Vor der Schwanen-Apotheke in der Osterstraße, schräg gegenüber von der kleinen Sparkassenfiliale und der Eisdiele.
Lucy war dreizehn, und niemand interessierte sich für sie. Für die Jungs, die sie spannend fand, war sie Luft. Sie schob es auf ihre Zahnspange und auf ihre Brüste, die sich einfach nicht schnell genug entwickeln wollten. Überhaupt war sie körperlich einfach zu klein. Sie wirkte kindlich, egal, wie sehr sie sich schminkte. Sie sah eher aus wie eine Elfjährige, die mit Mamis Kosmetikkoffer gespielt hat.
Lucy hasste es zu sehen, wie ihre verliebte Mutter an ihrem neuen Typen herumknabberte. Sie hatte alles getan, um Mamas neuen Freund rauszuekeln. Doch neben ihrem Kinderzimmer quietschte fast jeden Abend die Matratze.
Schließlich zog der Typ ein und fing an, an ihr herumzuerziehen. Seine Lieblingssätze begannen mit: Ich bin zwar nicht dein Vater, aber …
Immer, wenn sie dachte, jetzt ist der Tiefpunkt erreicht, kam es noch schlimmer. Die Mutter wurde schwanger, und jetzt hatten sie sogar Zwillinge. Ina und Tina, benannt nach Ina Müller, die er ganz toll fand, und deren Fernsehsendung »Inas Norden« er nie verpasste.
Er hatte eine ganze Sammlung mit Ina-Müller-DVDs. Mit einem Sixpack Bier neben sich konnte er die Filme auch dreimal hintereinander angucken, dabei sang er jedes Mal laut mit.
Tina wurde nach Tina Turner benannt, ein großes Vorbild ihrer Mutter, denn Tina Turner hatte es geschafft, sich aus der Fuchtel von Ike Turner zu befreien. Lucys Mutter identifizierte sich total mit Tina Turner, und das hatte weniger mit ihrem Gesang als mit ihrem Leben zu tun. Als es mit ihrem richtigen Vater besonders schlimm stand und sie sich wegen der Brüllerei am liebsten den ganzen Tag die Ohren zugehalten hätte, sah ihre Mutter den Film über Tina Turners Leben, und noch heute erzählte sie davon, da habe sie den Mut gefasst, den Idioten zu verlassen.
In Lucys Augen war er kein Idiot, sondern nur ein jähzorniger, alkoholkranker Mensch, der sich selbst nicht im Griff hatte, wenn er zu viel trank und dann herumschrie und am Ende auch zuschlug. Sie liebte ihn trotz allem! Ja, verdammt. Er war ihr Vater, und sie liebte ihn!
Das Leben ohne ihn war dann viel besser gewesen, und Lucy hatte sich die Zukunft ganz anders vorgestellt. Irgendwann, dachte sie, findet sie einen guten Typen, zieht bei ihrer Mutter aus und macht dann alles besser.
Stattdessen begann das ganze Spiel hier von Neuem. Ihre Mutter, die sonst ach so gluckenhaft, klug und rücksichtsvoll war, wurde über Nacht zu einer verliebten dummen Kuh, die nur noch Augen für ihren Macker hatte.
Immerhin randalierte er nicht, wenn er betrunken war, sondern wurde nur fröhlich, sang lautstark und schlief irgendwann ein.
Aber mit den Zwillingen war dann alles noch viel schlimmer geworden. Wenn die Matratze nebenan nicht quietschte, dann schrien die kleinen Biester. Auf jeden Fall war immer ein unangenehmer Lärm im Haus.
Bis vor wenigen Wochen war Lucy die Kleine und durfte alles Mögliche nicht tun, weil sie dafür noch zu jung war. Plötzlich war sie die große Schwester, sollte vernünftig sein, auf Babys aufpassen, Windeln wechseln und ihren ganzen Lebensrhythmus nach diesen kleinen Schreihälsen richten.
Eins wusste sie jetzt jedenfalls: Sie musste ihre Lebenspläne ändern. Einen guten Jungen kennen zu lernen, um dann mit dem zusammenzuziehen, war vielleicht immer noch eine prima Idee, aber Kinder kriegen wollte sie auf gar keinen Fall. Seitdem sie diese beiden Geschwister hatte, wusste sie, dass Kinder das Leben nicht versüßten.
Obwohl ihre Mutter mit dem Neuen immer noch viel herummachte, wurde der Ton zwischen ihnen doch gereizter. Er behauptete, ihm würden drei Monate Schlaf fehlen, und er käme beruflich einfach nicht mehr klar, wenn er nicht endlich mal eine Nacht durchpennen könnte.
Sie dagegen wollte sich nicht vollständig in die Rolle der Hausfrau drängen lassen und verlangte von ihm, dass er viel mehr mit anfassen sollte.
Gestern in der Ferienwohnung hatte Lucy die Zwillinge mit einem zu heißen Brei aus einem Hipp-Gläschen gefüttert. Jetzt wurde sie
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