Ostfriesenmoor: Der siebte Fall für Ann Kathrin Klaasen (German Edition)
angekommen war, fühlte sie sich wieder mit der Welt versöhnt. Vielleicht war das der richtige Weg: einfach über die Situationen zu lachen und seine Scherze zu machen.
»Wenn du dir heute Abend einen Babysitter besorgen kannst, dann komm doch zum Drachenstrand. Wir wollen eine kleine Party geben.«
»Cool.«
Die Kellnerin stellte das Spaghetti-Eis vor ihn auf den Tisch. Er aß aber nicht davon, sondern schob es in Lucys Richtung.
»Möchtest du?«
Doch sie lehnte dankend ab und ahmte ihre Mutter nach, als sie sagte: »Ich würde ja gerne, aber die Linie … du verstehst.«
So dünn wie sie war, hätten ihr fünf Kilo mehr eher gut getan.
Er nickte wissend. »Jaja, bis die Schwangerschaftsstreifen weg sind, das dauert.«
Lucy mochte diese spielerisch-spöttische Ebene, sich mit ihm zu unterhalten. Das machte alles leicht. Die Welt wurde zur Bühne, zum Witz, zum Spielcasino, und sie hoffte, dass er nicht merkte, wie verknallt sie in ihn war.
Jetzt nahm er den Löffel und fuhr geschickt damit durch das Eis. Er sorgte für einen guten Haufen von Sahne, Vanille-Eis und roter Soße. Dann schob er sich den Löffel in den Mund, als sei er ein Model aus der Werbebranche. Er aß genüsslich, schnalzte mit der Zunge und gab sich Mühe, noch einmal die gleiche, wohlschmeckende Mischung auf seinen Löffel zu häufen. Dann führte er ihn durch die Luft in ihre Richtung, auf ihren Mund zu.
Sie öffnete ihre Lippen. Es war wie ein Kuss auf Umwegen.
Sie ließ das Eis mit geschlossenen Augen unterm Gaumen schmelzen und hatte das Gefühl, noch nie ein besseres Spaghetti-Eis gegessen zu haben.
»Scheiß doch auf die schlanke Linie«, lachte er. »Ich heiße übrigens Benne.«
»Lucy.«
Sie konnte ja nicht ahnen, was gerade in diesem Moment hinter ihrem Rücken geschah.
Der Alptraum begann, als er ihr den zweiten Löffel voll Spaghetti-Eis anbot und fragte: »Willst du mit mir gehen?«
Sie hatte nicht so schnell damit gerechnet. Sie war natürlich einverstanden, wollte aber auch nicht sofort nicken, um ihm nicht das Gefühl zu geben, sie sei für jeden billig zu haben. Trotzdem nickte sie stumm, und er lehnte sich zufrieden im Stuhl zurück.
»Nur ein kleines Urlaubsscharmützel – damit wir uns richtig verstehen. Nichts Festes. Lass uns einfach nur ein bisschen Spaß haben.«
»Klar«, sagte sie. »Das gehört zum Urlaub dazu.«
Er fand, dass er eine gute Show ablieferte, und offensichtlich tat sie ja ihre Wirkung.
Das erste, fast hingehauchte »Lucy?« hörte sie nicht. Sie saß mit dem Rücken zum Kinderwagen und zur Apotheke.
Er hatte ihre Mutter aber voll im Blick und fand, dass sie gar nicht aussah wie eine Frau, die eine fast erwachsene Tochter hatte und dazu noch ein Zwillingspärchen. Die da war nicht als Mama geboren worden. Er hielt jede Wette, dass sie früher mal Pot geraucht hatte und eine Punkerin gewesen war. Etwas von ihr hatte immer noch die Ausstrahlung eines ganz wilden Fegers. Im Grunde war sie viel interessanter als ihre Tochter.
Sie machte ein verstörtes Gesicht, als würde sie etwas nicht begreifen. Sie beugte sich über den Kinderwagen, riss eine Decke hoch. Dann kreischte sie: »Lucy! Lucy?«
Lucy fuhr im Stuhl hoch und sah ihre Mutter an.
»Die ist aber scheiße drauf«, sagte er noch, doch das hörte Lucy nicht mehr. Es ging im Geschrei unter.
»Was machst du denn da? Wo ist Tina? Du kannst doch den Kinderwagen hier nicht alleine lassen!«
Schon war Lucy am Kinderwagen, und dort lag nur noch Ina, mit ihrem Strickmützchen auf dem Kopf und dem Schnuller neben sich.
Frau Müller sah sich nach rechts und links um. »Soll das ein Scherz sein?«, fragte sie. »Das ist nicht witzig, Lucy!«
»Ich … ich weiß nicht, wo sie ist. Ich hab doch nur da vorne gesessen und jemandem Guten Tag gesagt … Ich …«
Nie in ihrem Leben hatte Lucy jemanden so sehr kreischen hören. Zwischen den Häuserfronten hallte der Schall.
Herr Edzards kam aus der Buchhandlung gestürmt, um zu sehen, was draußen los war. Auch aus der Apotheke kamen Menschen und aus der Sparkasse.
Frau Müller schnappte nach Luft. Ein Zittern ließ ihren ganzen Körper vibrieren. Sie verkrampfte, japste nach Luft und fiel dann zu Boden.
Der Buchhändler war rechtzeitig da, um zu verhindern, dass ihr Kopf auf die Steine krachte.
Ich … Es ist nicht meine Schuld, dachte Lucy. Ich will nicht daran schuld sein! Ich hab doch nichts gemacht. Ich hab doch nur ein paar Sekunden. …
Gleichzeitig wusste sie, dass sie
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