Ostfriesenmoor: Der siebte Fall für Ann Kathrin Klaasen (German Edition)
angeguckt wie ein Folterknecht, der absichtlich kleine Kinder quälte, denn Tina hatte angeblich ein kleines Brandbläschen an der Oberlippe. Das Bläschen hatte sie wirklich, aber so heiß war der Brei nun doch nicht gewesen, fand Lucy und hatte ihn demonstrativ leer gelöffelt.
Gab es etwas Schlimmeres, als mit einer verliebten Mutter, ihrem verstörten Freund und zwei quäkenden Hosenscheißern vierzehn Tage Urlaub in Norddeich zu machen? In einer Ferienwohnung hockte man noch enger zusammen als zu Hause. Dafür ging die Spülmaschine nicht, und irgendeiner musste den Abwasch machen. Und offensichtlich fanden alle, die etwas zu sagen hatten, das sei für eine Dreizehnjährige genau der richtige Job, um sie aufs Leben vorzubereiten.
Sie hatte gehört, dass es direkt hinterm Deich eine legendäre Disco gab, die Meta hieß und am Wochenende viele Jugendliche anlockte. Aber sie war sich sicher, dass man sie nicht reinlassen würde. Ihre Freundin Anke, die noch zwei Monate jünger war als sie, kam überall rein. In jeden Film ab achtzehn und in jede Disco. Sie war gut einen Kopf größer und ging überall als Erwachsene durch. Sie zog Röcke an, die selbst die Lehrer verrückt machten.
Bevor sie ihn sah, hörte sie seine Stimme. Es war dieser blonde Junge mit dem Wuschelkopf, der ständig so strubbelig war, dass sie noch nicht die Farbe seiner Augen herausbekommen hatte. Sein Lachen war so ansteckend, als könnte er damit eine Epidemie auslösen.
Er hatte lange Beine und schmale Hüften. Die Jeans hing so tief herab, dass seine blauweiß gestreiften Boxershorts bei jedem Schritt aufblinkten. Es war ein geschicktes Spiel der Arschmuskeln, mit dem er die Jeans festhielt. Jeder sah hinter ihm her und rechnete damit, die Hose könnte einfach herunterrutschen. Das tat sie aber nicht. Dazu war er viel zu geübt.
Er trug Adidas mit offenen Schnürriemen, die beim Gehen ein leises Geräusch machten, das sie an eine Snare-Drum erinnerte.
Sie musste jetzt hier stehen und auf den Kinderwagen aufpassen, denn die Mutter wollte in der Apotheke ein Nasenspray besorgen, weil ihr Lover sonst nachts zu laut schnarchte, und irgendwelche Zäpfchen für die Kleinen.
Nervös wackelte Lucy an dem Kinderwagen herum, denn die Zwillinge begannen gern zu schreien, wenn sich nichts mehr bewegte. Solange der Wagen gerollt wurde oder sie irgendein Schaukeln spürten, waren sie meist ruhig.
Der scharfe blonde Junge bestellte sich ein Spaghetti-Eis und setzte sich breitbeinig hin. Er fischte eine große Sonnenbrille aus der Brusttasche seines Oberhemds und setzte sie zum Knutschen lässig auf.
Warum, dachte Lucy, muss ich hier stehen und auf die Zwillinge aufpassen, während Mamas Lover auf der Terrasse der Ferienwohnung sitzt, um in Ruhe seinen Roman zu Ende zu lesen?
Der Junge sah zu ihr rüber. Ja, es war ganz eindeutig. Er musterte sie.
Sie fühlte sich geradezu abgetastet von seinen Blicken, auch wenn er mit dem Zeigefinger die Brille über seine Nase schob.
Die Apotheke lag im Schatten. Auf der anderen Straßenseite standen die Stühle vor der Eisdiele in der Sonne.
Lucy bog ihren Rücken durch, drückte die Brust raus und wippte mit dem Bein zum Takt einer imaginären Musik. Sie hatte zwar kein Kaugummi im Mund, tat aber so, als würde sie kauen. Sie fand, das sah lässiger aus.
Er legte eine Zigarettenpackung auf den Tisch und kramte in seinen tiefen Hosentaschen nach einem Feuerzeug. Dann schob er die Sonnenbrille auf die Stirn, und jetzt sahen sie sich direkt an.
Lucy ließ den Kinderwagen stehen und ging ein paar Schritte auf ihn zu.
Er bot ihr gestisch einen Stuhl an.
Sie zögerte, ob sie sich setzen sollte.
»Zigarette?«, fragte er.
Sie rauchte zwar nicht, fühlte sich aber unglaublich geehrt durch seine Frage, schien er sie doch als Erwachsene ernst zu nehmen.
Sie nickte und versuchte den Gedanken zu verdrängen, was passieren würde, wenn ihre Mutter aus der Apotheke kam und ihre Tochter gegenüber in der Eisdiele mit einer Zigarette in der Hand sitzen sah.
Lucy legte die Zigarette wieder auf den Tisch zurück und sagte. »Nee, jetzt nicht, ich hab noch einen Kater von gestern.«
Er nickte wissend. Der Spruch war gut bei ihm angekommen.
»Sind das deine Zwillinge?«, fragte er grinsend.
»Ja, ich schlag mich als alleinerziehende Mutter durch. Ist gar nicht so einfach heutzutage.«
»Ist der Typ abgehauen?«
»Ja, mit ’ner Jüngeren.«
Dann lachten beide laut und zum ersten Mal, seit sie in Ostfriesland
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