Ostfriesensünde
wie ihre Fingernägel an den Steinen abrissen. Mein Gott, was versprachen sie ihm alles, wenn er sie nur freilassen würde! Doch er antwortete nicht. Aus Prinzip nicht. Da, wo er sie hinverbannte, sollte es keinen Dialog mehr geben.
Er ließ sich auf nichts ein. Auf gar nichts!
Es wäre ein Leichtes gewesen, eine bewegliche Kamera in dem Sterberaum zu installieren. Aber dann hätte er auch eine Beleuchtung gebraucht. Und das durfte nicht sein. Die Finsternis war wichtig.
Er konnte sie durchs Wohnzimmerfenster sehen. Sie trank Tee mit ihren Eltern. Ihr Vater starrte abwesend auf das Fernsehgerät, obwohl es gar nicht an war. Ihre Mutter bemühte sich, Konversation zu machen. Es standen Käsebrote mit kleinen Gürkchen und Kirschtomaten auf dem Tisch.
Er wusste, dass sie es nie lange bei ihren Eltern aushielt. Normalerweise machte sie mindestens alle dreißig Minuten einen kleinen Spaziergang ums Haus und rauchte dabei eine Zigarette. Er hatte beschlossen, sie dabei ein fach einzupacken und mitzunehmen.
Er stellte es sich amüsant vor. Wie würden die Eltern reagieren?
Die Tochter geht mal raus, eine rauchen, und kommt einfach nicht wieder. Nie wieder …
Sie öffnete die Tür und zündete sich die Zigarette an, ohne die Haustür wirklich vollständig hinter sich zu schließen. Judith Harmsen trat nervös von einem Bein aufs andere. Die Gespräche mit ihren Eltern schienen zu stocken.
Nun komm, Mädchen, dachte er. Komm. Geh ein paar Meter. Nur zehn, zwanzig Meter reichen mir schon.
Aber sie tat ihm den Gefallen nicht. Sie rauchte, halb im Flur, halb auf der Straße stehend.
Na gut, dachte er. Ich habe Zeit. Ich bin ein geduldiger Mensch. Irgendwann wirst du rauskommen. Und dann hab ich dich.
Judith Harmsen gab vor, sich den Magen verdorben zu haben, um die Käsehappen nicht essen zu müssen. Den im Supermarkt gekauften Kartoffelsalat von Homann, von dem ihre Mutter behauptete, besser könne man ihn gar nicht selbst machen, und die Brühwürstchen lehnte sie erst recht ab. Sie brauchte eine Pause. Sie musste durchatmen.
In Ganderkesee in der Bücherei gab es eine Autorenlesung. Ein Krimiautor las aus seinem neuen Werk vor. Sie kannte ihn nicht, beschloss aber, hinzufahren. Einfach nur, um auf andere Gedanken zu kommen.
Sie hörte im Auto Hit Radio Antenne. Der Schollmayer spielte Hits aus den Achtzigern. Sie drehte voll auf. »Manic Monday« von den Bangles.
Sie bemerkte den Wagen hinter sich nicht. Sie wusste nicht, wie sich jemand fühlt, der verfolgt wird. Sie war ohne Argwohn.
Sie parkte neben der Bücherei Ganderkesee auf dem kleinen Parkplatz und sah rüber zum alten Bahnhof. Sie war schon lange nicht mehr hier gewesen. Der alte Bahnhof war zu einem
Lokal umgebaut worden und hieß jetzt Gleis Eins. Für einen Moment zögerte sie, ob sie wirklich in die Bücherei gehen oder lieber im Gleis Eins etwas Vernünftiges essen sollte.
Dann sah sie, dass es in der Bücherei langsam voll wurde. Spontan gesellte sie sich zu den Zuhörern. Es gab Wein, und der Autor überprüfte kurz das Mikrophon, danach entschied er sich, er käme auch ohne klar. Er hatte offensichtlich einige Fans hier, die nicht zum ersten Mal eine Autorenlesung von ihm besuchten.
Sie nahm ein Glas Weißwein, streckte die Beine aus und begann sich zu entspannen.
Sie ließ sich von den Worten mitnehmen in eine ganz andere Welt. Der Autor entführte seine Leser in eine düstere kriminelle Gegend, in der es planvolle Killer gab, böse Machenschaften und Opfer, die nicht merkten, wie sie in die Falle gelockt wurden.
Wie schön, dachte sie mit einem wohligen Gefühl, dass ich bei allen Problemen in so einer friedlichen Gegend wohne. Ihr wurde schon komisch, wenn sie am Bremer Hauptbahnhof von den Junkies angesprochen wurde. Aber die baten unter Entzugsdruck nur um ein paar Euro. Pläne, die über den Tag hinausgingen, hatten die sicherlich nicht.
Draußen ließ jemand die Luft aus den Reifen ihres roten VW Polo.
Nun war alles bestens vorbereitet. Er ging zum Eingang der Bücherei und sah sich das Plakat an. Die Autorenlesung hatte um 20 Uhr begonnen und war bis 22 Uhr angesetzt.
Er überlegte, was dagegen sprach, jetzt noch hineinzugehen, um sich alles mit anzuhören. Es war fast ausverkauft, aber schräg hinter ihr, zwei Reihen weiter, waren noch ein paar Stühle frei. Er befürchtete aber, zu viele Blicke auf sich zu ziehen, wenn er jetzt als Nachzügler hereinkam. Wahrscheinlich
würde er als Störenfried empfunden werden. Doch
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