Ostfriesensünde
dann hatte er Glück. Zwei junge Frauen und ein koreanisch aussehender Mann, der viel weiblichere Züge hatte als seine Begleiterinnen, kamen mit Fahrrädern aus Bookholzberg. Er war sich sicher, dass er mit ihnen hineinhuschen konnte. Schöne Frauen würden die Blicke der Männer auf sich ziehen und der Asiate die der weiblichen Zuhörer.
Seine Vorsichtsmaßnahme wäre gar nicht nötig gewesen. Die meisten Büchereibesucher achteten nicht mehr auf ihre Umwelt, sondern befanden sich längst im Banne des Thrillers.
Er saß jetzt hinter ihr und konnte ihre Nackenhaare sehen, weil sie den Kopf schräg legte, so dass er fast auf ihre rechte Schulter sank. Während alle Zuhörer dem Krimiautor folgten, blieb der Maurer bei seinen eigenen Phantasien.
Die Zeit verging plötzlich sehr schnell. Sie kaufte sich am Ende der Lesung sogar ein Buch und ließ es sich vom Autor signieren.
»Jetzt will ich ja auch wissen, wer der Mörder ist«, sagte Judith Harmsen.
Der Autor lachte: »Wenn Sie es in den ersten zwei Dritteln des Buches erraten, bekommen Sie Ihr Geld zurück.«
Er spürte Wut in sich aufsteigen. Er hatte Angst, heute doch noch leer auszugehen. Wollte sie diesen Schreiberling jetzt etwa anbaggern? Würden die gleich gemeinsam verschwinden? Er brauchte sie allein.
Die Bibliothekarin und ihr Mann unterhielten sich mit dem Autor und fragten, ob er Lust hätte, noch mit ihnen essen zu gehen.
Judith Harmsen verließ die Bücherei allein. Er folgte ihr, aber sie ging keineswegs zum Parkplatz, sondern überquerte die Gleise und verschwand im Gleis Eins. Dort saß sie, trank ein alkoholfreies Weizenbier und blätterte auf der Suche nach dem Mörder hinten im Roman.
Er nahm sich am Eingang ein Delmenhorster Kreisblatt und versteckte sich hinter der Zeitung. Er trank einen Espresso und staunte, wie schnell sie ihr alkoholfreies Weizenbier hinunterstürzte.
Na, dachte er, treibt dich das schlechte Gewissen zu deinen Eltern zurück? Kannst du es gar nicht mehr abwarten, bis du sie endlich abgeschoben hast? Genieß das hier, meine Kleine. Es wird das Letzte sein in diesem Leben …
Er legte vier Euro auf den Tisch und verließ das Lokal. Er wollte auf jeden Fall vor ihr draußen sein. Er wartete an ihrem Auto.
Knapp zehn Minuten später kam sie mit beschwingtem Schritt auf ihn zu. Die Beleuchtung hier war für seine Pläne günstig. Das mannshohe Gebüsch ebenfalls. Er stand im Dunkeln. Sie kam aus dem Licht.
Er hatte sich das anders vorgestellt. Er dachte, sie würde die platten Reifen bemerken, sich bücken, und nach Hilfe umschauen, und er könnte als hilfreicher Samariter auf der Bildfläche erscheinen und ihr in einem günstigen Moment ein mit Chloroform getränktes Tuch auf die Nase drücken.
Doch sie bemerkte die zerstochenen Reifen nicht. Sie stieg in den Polo und ließ den Motor an.
Frauen, dachte er grimmig. So etwas kann auch nur Frauen passieren. Verflucht nochmal!
Er befürchtete, sie könnte jetzt mit platten Reifen bis auf die Bahnhofstraße fahren und dann den ADAC rufen.
Er klopfte einfach an ihre Scheibe.
Sie erschrak nur einen kurzen Moment, dann erkannte sie sein Gesicht. Sie waren sich in der Bibliothek begegnet. Von Menschen, die zu Autorenlesungen gingen, erwartete sie nichts Böses.
Sie ließ die Scheibe herunter und lächelte ihn an. »Ist Ihr Auto kaputt? Kann ich Sie irgendwohin mitnehmen?«, fragte sie.
»Meins ist in Ordnung. Aber Sie haben einen Platten.«
»Was?«
Sie öffnete die Fahrertür und sah nach hinten. »Tatsächlich. Ausgerechnet jetzt! Ich muss zu meinen Eltern und ich … «
»Keine Sorge, ich helfe Ihnen. Ich habe früher mal in einer Autowerkstatt gearbeitet. Reifen wechseln ist sozusagen meine Spezialität.«
Sie lehnte sich ans Auto und zündete sich eine Zigarette an, während er in ihrem Kofferraum angeblich das richtige Werkzeug suchte. Stattdessen öffnete er die Flasche und tränkte sein Taschentuch mit dem Chloroform.
»Schmeckt Ihnen die Zigarette?«
»Ja, warum? Gehören Sie auch zu den militanten Nichtrauchern? Oder darf ich Ihnen eine anbieten?«
»Nein, nein, genießen Sie sie nur. Ich fürchte nämlich, es wird Ihre letzte sein.«
Dann drückte er ihr das Tuch über die Nase und hielt ihr den Mund zu.
Schreckensstarr sah sie ihn an, unfähig, sich zu bewegen.
Huberkran wartete bereits seit einer halben Stunde im Restaurant Minna am Markt in Norden auf Weller. Er hatte seine Tasche mit dem Laptop neben sich auf der Bank abgestellt, studierte
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