Ostfriesensünde
ähnlich.«
»Klocke?«
»Ja. Genau. Und für so eine junge Frau hatte sie einen ziemlich alten Vornamen.«
»Isolde?«
Helga Heidrich lachte. »Ja, genau. Isolde.«
Ann Kathrin saß im großen roten Wohnsessel mit Blick auf den Tisch und aufs Fenster. Sie sah einen Ausschnitt vom ostfriesischen Himmel, der immer noch blau war.
»Sie war mit Papa nicht nur in Venedig, Mama. Sondern auch in Amsterdam und Rom.«
Diesmal brachte Helga Heidrich keine Fototapete ins Spiel. Sie sah Ann Kathrin nur entgeistert an und fragte: »Was soll das? Warum zeigst du mir diese Bilder?«
»Mama. Hatte Papa eine Geliebte?«
Die Mutter wischte sich nervös mit der Hand übers Gesicht. Ihre Mundwinkel zuckten. Merkwürdig hart stellte sie fest: »Dein Mann hat dich betrogen, Ann Kathrin. Meiner war mir treu.«
»Boah, danke, Mama. Das saß!«
Ann Kathrin stand auf. Sie war kurz davor zu gehen. So kannte sie ihre Mutter gar nicht. Sie fuhr sie an: »Warum sagst du so etwas? Willst du mich verletzen?«
Helga warf die Fotos auf den Tisch zurück. »Warum zeigst du mir dann so etwas? Dein Vater wurde erschossen, Ann Kathrin. Und ich habe ihn sehr geliebt. Ich möchte ihn in guter Erinnerung behalten. Es hat in unserer Ehe Höhen und Tiefen gegeben, wie in jeder Ehe. Aber er war ein guter Mann, und ich würde alles darum geben, wenn er jetzt noch bei mir wäre.«
»Ich auch!«, zischte Ann Kathrin und kehrte zum Tisch zurück, um die Fotos an sich zu nehmen. »Ich gehe jetzt, Mama. Heute ist irgendwie nicht der richtige Tag, um mit dir zu reden.«
»Nein. Bleib.« Helga fasste ihre Tochter an und versuchte, sie auf den Sessel zurückzuziehen. Unwillig gab Ann Kathrin nach.
»Dein Vater hat mit dieser Frau eine Weile zusammengearbeitet. Er hat den Job immer gehasst. Das war alles total geheim. Sie waren Zielfahnder oder wie das heißt. Niemand durfte es wissen. Offiziell war er dann immer zu einer Fortbildung. In Wirklichkeit haben sie irgendeinen Gauner verfolgt oder beschattet. Das Ganze war so geheim, dass er nicht einmal mir etwas davon erzählen durfte. Vielleicht hat er es auch nicht getan, um mich nicht zu beunruhigen. Kann sein, dass sie in Amsterdam und Rom und meinetwegen auch in Venedig waren. Das würde mich allerdings wundern, denn davon hätte er mir doch bestimmt etwas erzählt. Außerdem glaube ich kaum, dass sie sich dabei haben fotografieren lassen. Also, ich verstehe nicht, was diese Fotos sollen.«
Ann Kathrin wurde heiß und kalt, während ihr Mund austrocknete. Sie hatte lange nicht mehr so heftige körperliche Reaktionen gespürt, während ihr jemand etwas erzählte. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und in ihren Verhörgang verfallen – drei Schritte, eine Kehrtwendung, drei Schritte, eine Kehrtwendung. Das gab ihr immer Sicherheit. Allerdings brachte sie jetzt nicht die Kraft dazu auf.
Sie wollte sich jetzt am liebsten bei ihrer Mutter entschuldigen, falls sie sie verletzt hatte. Aber sie war immer noch unglaublich empört. Warum hatten weder Vater noch Mutter ihr je davon erzählt?
»Das ist kein Job gewesen für deinen Vater. Er wollte so schnell wie möglich aus dieser Sache wieder aussteigen. Das ist etwas für Junggesellen, die was von der Welt sehen wollen und sich die Hörner abstoßen müssen. Aber nein, sie wollten ja unbedingt Karl-Heinz dafür haben.«
Ann Kathrin hörte ihrer Mutter nicht mehr zu. Sie stellte sich vor, Ubbo Heide damit zu konfrontieren.
»Zielfahnder.« Sie sprach das Wort leise aus, als müsse sie sich vergewissern, dass sie nicht die Sprache verloren hatte.
»Weißt du, hinter wem sie her waren, Mama, oder worum es ging?«
Helga schüttelte den Kopf. »Wir haben damals viel Krach miteinander gehabt. Du warst schon aus dem Haus. Ich war allein. Er ständig unterwegs. Es war nicht die beste Zeit unserer Ehe. Er hat mir kaum noch etwas erzählt. Manchmal habe ich ihn zwei Wochen lang gar nicht gesehen.«
»Aber Mama, das wusste ich nicht.«
»Kind, du hattest dein eigenes Leben. Du warst verliebt in Hero. Du wolltest nicht länger Polizistin sein, sondern vielleicht eine Therapieausbildung machen und dann mit ihm gemeinsam eine Praxis gründen. Hätten wir euch mit unseren Sorgen belästigen sollen … «
Wenig später saß Ann Kathrin in ihrem froschgrünen Twingo. Sie ließ den Motor an, aber sie konnte nicht losfahren. Sie zitterte, und Tränen liefen ihr über die Wangen.
Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Sie sah ihren Vater in einem Nebelmeer von
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