Ostfriesensünde
hinten. Er ging aufs Meer zu. Sie konnte nur seine Schultern und seinen Kopf erkennen, den Rest schluckte der Nebel.
Sie riss die Augen wieder auf, und es war ein herrlicher Sommerabend. Aber sobald sie die Augen zumachte, kamen die Phantasiebilder wieder.
Ann Kathrin fuhr nach Hause. Weller wartete bereits auf sie. Er hatte hinten die Tür zur Terrasse geöffnet und zwei Fenster. Als Ann Kathrin nun vorne durch die Haustür kam, entstand Durchzug, und die Terrassentür knallte zu.
Weller sah ihr an, wie fertig sie war. Er schlug ihr vor, sie solle sich auf der Terrasse in den Strandkorb setzen.
Sie ging zum Kühlschrank, nahm ein eisgekühltes Glas aus dem Gefrierfach, aber die Doornkaatflasche war leer. Weller bot ihr stattdessen einen Noorder Wacholdergeist aus dem Kontor an. Ann Kathrin nahm ihn und beschloss, umzusteigen. Im Grunde hatte sie Doornkaat nie wirklich gemocht, sondern immer nur aus Sentimentalität getrunken. Ihr Vater hatte immer eine Flasche Doornkaat im Eisfach liegen und daneben ein gefrorenes Glas. So hatte sie ihn schon als Kind erlebt, wenn er den Frust des Tages wegspülte.
Sie trank den Noorder im Stehen. Dabei zog sie ihre Schuhe aus, indem sie mit der Fußspitze jeweils die Hacke festhielt. Sie ließ die Schuhe vor dem Kühlschrank liegen und ging barfuß zur Terrasse.
Sie warf die leere Doornkaatflasche zum Altglas. Dann machte sie es sich im Strandkorb bequem.
Der Himmel war immer noch blau. Eine weiße Wolke zog von Westen nach Osten, aber die ersten Sterne wurden schon sichtbar. Sie liebte dieses Licht in Ostfriesland zwischen Tag und Nacht.
Weller brachte ihr eine Decke, obwohl sie keine brauchte. Dann zog er sich einen Stuhl heran, nahm ungefragt ihren linken Fuß und cremte ihn ein, bevor er begann, ihn mit leichtem Daumendruck auf die Sohle zu massieren. Sie ließ ihn gewähren und schloss die Augen.
Diesmal verschwand ihr Vater vollständig im Nebel.
»Was weiß ich eigentlich über meinen Vater?«, fragte sie mehr sich selbst, als dass sie es zu Weller sagte.
Trotzdem antwortete er: »Na ja, du hast doch immer ein prima Verhältnis zu ihm gehabt. Was ich von mir und meinem Vater nun überhaupt nicht sagen kann. Deiner hat dich nicht geknechtet und versucht, dich kleinzuhalten, sondern … «
»Ich weiß. Ich weiß. Aber ich habe gerade eben von meiner Mutter erfahren, dass er in den letzten Jahren als Zielfahnder gearbeitet hat. Davon hatte ich keine Ahnung.«
»Ann, das spielt doch jetzt alles keine Rolle mehr. Er ist bei einem Banküberfall in Gelsenkirchen erschossen worden. Es gibt Fotos. Filmaufnahmen. Er hat sich gegen eine Geisel auswechseln lassen und dann … «
Ann Kathrin entzog ihm ihren Fuß, sprang auf und zog Weller mit sich ins Haus. Er wusste, wo sie mit ihm hin wollte. In das ehemalige Arbeitszimmer ihres Exmannes. Er trottete bereitwillig hinter ihr her. Inzwischen war aus dem Raum eine Art Museum für ihren Vater geworden, den Weller manchmal ironisch »den Tempel« nannte. Jede Sekunde des Überfalls war dort aufgelistet. Wer wo stand. Wer was gesagt hatte. Jeder Funkbericht und Kopien aller Akten.
Ann Kathrin konnte nicht damit leben, dass der Mörder ihres Vaters frei herumlief. Sie hatte seitdem jeden vergleichbaren Banküberfall in ganz Europa analysiert.
Dies hier war ihr viel wichtiger als die Serientäter. Sie galt als die Fachfrau für Serienkiller, aber in Wirklichkeit war sie nur hinter einem her: dem Mörder ihres Vaters. Und sie wusste mehr über Banküberfälle als irgendjemand auf der Welt. Das war Weller völlig klar.
Auf der Holztreppe stolperte sie und wäre fast hingefallen. Im Zimmer heftete sie die Fotos von ihrem Vater und Isolde Klocke an die Wand, zu den Bildern vom Überfall.
»Warum«, fragte sie Weller, und ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen, »warum weiß ich alles, alles, alles über meinen Vater und diesen Scheiß-Banküberfall, aber nicht, dass er mit dieser Frau als Zielfahnder gearbeitet hat und auch nicht, hinter wem er her war?«
Weller versuchte, sie zu beruhigen: »Ann, lass die Toten ruhen. Das Ganze legt sich wie ein dunkler Schatten über unser Leben. Ich krieg ja kaum noch Luft hier. Dein toter Vater wird übermächtig. Lass uns versuchen, unser Leben zu leben. Mit deinem Sohn, mit meinen Kindern.«
»Danke, dass du mich jetzt an Eike erinnerst! Willst du mir ein schlechtes Gewissen machen?«
»Geh doch nicht gleich hoch, Ann. Es gibt ein Hier und Jetzt. Huberkran will dich unbedingt in die
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