Ostfriesensünde
nie einen Zielfahnder namens Karl-Heinz Heidrich gegeben, oder er hatte keine ungelösten Fälle zurückgelassen, oder die Dinge waren falsch
eingeordnet worden. Das Ganze glich einer Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen.
Da waren weder Tür noch Fenster. Nur Steine.
Sie fürchtete nicht, zu verdursten oder zu verhungern. Aber die Angst zu ersticken machte sie fast wahnsinnig. Sie wusste nicht, wie lange sie schon hier drin war. Jedes Zeitgefühl war verlorengegangen.
Noch nie im Leben hatte sie solche Kopfschmerzen gehabt und so einen fürchterlichen Geschmack im Mund. Aber es gab nichts zu trinken. Keine Zahnbürste und kein Aspirin.
Sie hatte jeden Zentimeter der Wand abgetastet. An einigen Stellen war der Mörtel noch feucht. Sie konnte die Arme ausstrecken und erreichte mit den Fingerspitzen jeweils die andere Wand. Dreißig oder vierzig Zentimeter über ihrem Kopf befand sich die Decke. Obwohl sie nicht das kleinste Loch fand, musste von irgendwoher eine Luftzufuhr kommen. Hatte er absichtlich eine kleine Spalte im Mauerwerk freigelassen, damit sie so lange wie möglich überlebte? Wollte er ihr Leiden verlängern, oder war es Zufall?
Sie hatte aufgehört zu toben und zu schreien. Sie saß zusammengekauert in einer Ecke und atmete so wenig wie möglich.
Man wird mich finden, dachte sie. Irgendjemand wird mich vermissen. Oder dieses kranke Arschloch geht der Polizei ins Netz.
Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist. Solange ich noch Luft bekomme und Leben in mir ist, habe ich eine Chance.
Als Ann Kathrin Klaasen den Todestag von Isolde Klocke erfuhr, wusste sie, dass sie nach Spiekeroog musste. Einen Tag nachdem ihr Vater in Gelsenkirchen erschossen worden war, war seine Geliebte vor Spiekeroog ertrunken. Die beiden Todesfälle
lagen so nah beieinander, dass sich für Ann Kathrin ein Zusammenhang aufdrängte.
Ohne sich mit Weller abzusprechen, fuhr sie nach Neuharlingersiel und bekam noch einen Platz auf der MS Spiekeroog III . Sie trank an Bord einen Kaffee, der ihr nicht schmeckte, aber die Hände wärmte. Sie fror, obwohl die Sonne bereits vom wolkenlosen Himmel herunterknallte und die Touristen an Deck lockte.
Ann Kathrin konnte die Überfahrt nicht genießen. Das Gekreische der Kinder aus dem Ruhrgebiet: »Kumma, Mamma, Seehunde! Richtige, echte, die bewegen sich!« nervte sie. Sie reagierte unwirsch, als sie in der Enge an Bord angestoßen wurde. Sie wollte nicht so sein. Sie sah sich als netten, kinderlieben Menschen. Aber im Moment wäre ihr der Blanke Hans lieber gewesen als ein sonniger Ferientag.
Zwei Frauen aus Essen unterhielten sich. Sie hatten bereits im letzten Jahr eine Thalassotherapie auf Spiekeroog genossen und waren überzeugt davon, das Jahr überhaupt nur deshalb so gut überstanden zu haben.
Die eine behauptete, später im Herbst und im Winter anders als sonst keine einzige Infektionskrankheit bekommen zu haben, nicht mal eine Erkältung. Das läge nur an der Meerwasserbehandlung, der Meeresluft, der Sonne, den Algen, dem Schlick. Sie hörte gar nicht auf, davon zu schwärmen.
Die andere zeigte ihre Hände vor und reckte den Kopf hoch. Die große Schuppenflechte am Hals sei zu kleinen, inselförmigen Flecken geschrumpft und die Durchblutungsstörungen in den Fingern hätten sich auch gebessert. Sie brauche diesen Urlaub einfach.
Die freundlichere von den beiden, mit den kurzgeschnittenen Haaren, sprach Ann Kathrin an, ob sie auch schon mal eine Thalassotherapie gemacht hätte.
Ann Kathrin sagte grimmig: »Nein«, und ärgerte sich darüber,
dass sie so unfreundlich war. Sie halten mich bestimmt für eine hochnäsige, blöde Ziege, dachte sie.
Aber die Touristin aus Essen wertete Ann Kathrins miesepetrige Art auf ihre Weise und begann jetzt zu erklären, was eine Thalassotherapie ist.
»Ich glaube, das ist griechisch oder lateinisch oder so und heißt eigentlich nur Meer. Also, man nimmt nur ganz natürliche Sachen, wissen Sie, kein chemisches Zeug oder so. Alles, was eben aus dem Meer kommt, und das ist toll für die Haut. Meer haben die hier ja genug, hahaha.«
Ann Kathrin bemühte sich zu lächeln. Im Grunde waren das sympathische, nette Frauen, sagte sie sich. Aber sie wollte sich jetzt nicht unterhalten. Sie hatte ein klares Ziel, und darauf steuerte sie zu.
»Wie lange bleiben Sie denn auf der Insel? Also, ich finde, die Entspannung fängt ja erst nach einer Woche richtig an. Am Anfang dreht man ja noch am Rad wie ein Hamster im Käfig.«
»Genau«, gab
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