Ostfriesensünde
Ann Kathrin telefonisch zu erreichen. Er machte sich Sorgen.
Ann Kathrin sah »Frank« auf dem Display, ging aber nicht ran.
Einerseits wollte sie gern mit ihm sprechen und ihm alles erzählen, andererseits fürchtete sie seine Einwände. Sie wollte sich jetzt nicht beeinflussen lassen, sondern in sich hineinspüren und dann entscheiden, was zu tun war.
Sie ging ein paar hundert Meter weiter. Der nasse Sand quoll zwischen ihren Zehen hervor. Sie musste sich ab und zu die Ohren zuhalten, weil der Wind so pfiff und sie befürchtete, Ohrenschmerzen zu bekommen.
Da klingelte ihr Handy erneut. Diesmal war es Ubbo Heide, und sie ging, vielleicht einfach aus alter Gewohnheit, ran. Immerhin war er ihr Chef, und sie mochte ihn. Im entscheidenden Moment hatte er ihr oft den Rücken gedeckt. Er war eine Art väterlicher Freund, manchmal zu väterlich.
Er kam gleich zur Sache: »Ich habe hier das Ergebnis der Obduktion, Ann.«
Sie war so überrascht, dass sie fast gefragt hätte: »Welche Obduktion denn?«, aber er fuhr eilig, wie jemand, der zwischen zwei Terminen steckt, fort: »Ich habe wirklich Druck gemacht, damit der Hexenspuk hier bald ein Ende hat und deine Verdächtigungsorgien aufhören … «
So einen vorwurfsvollen Ton war sie von ihm nicht gewöhnt. Seine Stimme versetzte sie innerlich in Alarmbereitschaft. Komischerweise beschleunigte sie ihren Gang, als würde es ihr im Gespräch helfen, jetzt besonders tatkräftig zu wirken.
»Die gute alte Dame ist eines ganz natürlichen Todes gestorben, Ann. Und damit ist die Geschichte ein für alle Mal erledigt.«
»Moment, Moment, Moment. Was heißt das, eines ganz natürlichen Todes?«
»Soll ich dir jetzt ernsthaft das lateinische Kauderwelsch vorlesen? Sie war krank. Sie nahm blutverdünnende Mittel sowie Metoprolol gegen ihren Bluthochdruck. Außerdem Antidepressiva und ein Schlafmittel namens Diphenhydramin. Ein ganz schöner Cocktail, ist aber bei alten Leuten nichts Ungewöhnliches. Das wurde natürlich auch alles in ihrem Blut gefunden. Wenn ich bedenke, was ich alles nehme, sollte sich die alte Dame nicht beschweren … «
»Was war die Todesursache?«, fragte Ann Kathrin und hielt sich das Handy nah vor den Mund, um gegen den pfeifenden Wind anzubrüllen.
»Der Gerichtsmediziner aus Oldenburg sagt, wahrscheinlich hat sie sich zu sehr aufgeregt. Es war ein blutiger Schlaganfall. Ein Gefäß im Gehirn ist zerrissen … «
Ann Kathrin war empört. »Oldenburg? Ich hatte doch auf einer neutralen Obduktion bestanden!«
Ubbo Heide konterte sachlich-scharf: »Die Obduktionen in Oldenburg sind neutral und wissenschaftlich korrekt. Wir haben noch nie Anlass zu Beschwerden gehabt. Reiß dich zusammen, Ann Kathrin!«
»Aber an einem Schlaganfall stirbt man doch nicht!«, warf sie protestierend ein.
»Jetzt reicht es aber wirklich. So ein Schlaganfall ist wie ein Terroranschlag auf das Versorgungszentrum einer Großstadt. Nur findet das Ganze in der Steuerzentrale des menschlichen Organismus statt, im Gehirn! Da kann es schon mal zu Herzoder Lungenversagen kommen. Du verhältst dich absolut nicht korrekt, Ann Kathrin! Akzeptiere die Ergebnisse! Es wird Zeit, dass du deinen persönlichen Rachefeldzug für beendet erklärst und endlich wieder deine Arbeit aufnimmst. Ich kann nicht länger hinnehmen, dass du … «
Sie holte weit aus, wie um das Handy in die Nordsee zu werfen, aber dann hielt sie im letzten Moment inne und drückte
einfach den roten Knopf. Sie steckte das Handy ein und trat vor Wut nach einer angeschwemmten Wurzel. Da sie aber keine Schuhe mehr trug, tat sie sich dabei heftig weh. Sie fiel auf den Hintern und bekam einen nassen Po.
Sie hielt sich mit beiden Händen die Zehen vom rechten Fuß und jammerte laut. Es fühlte sich an, als seien mindestens zwei Zehen gebrochen. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf. Zunächst waren es Tränen über den körperlichen Schmerz, dann, als der nachließ, immer mehr Trauer und Wut.
Er fragte sich, ob Judith Harmsen schon tot war. Er schob seine Luftmatratze zur Seite und rollte die Decke zusammen, nahm einen Schluck aus der Wasserflasche und streichelte die Wand, hinter der sie sich befand.
»Du enttäuschst mich«, flüsterte er. »Die anderen haben länger durchgehalten. Hast du denn überhaupt keine Lebensgeister? Die meisten deiner Vorgängerinnen waren um diese Zeit noch nicht mal heiser.«
Er war wütend auf sie, fühlte sich um den Erfolg seiner Arbeit betrogen. Er hatte das Gebäude ausgesucht,
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