Ostfriesensünde
hatte in ihren Augen wenig mit Spiel und wenig mit Liebe zu tun, sondern vielmehr mit einer anstrengenden Gymnastikübung.
Am Frühstückstisch in der Wohngemeinschaft, zusammen mit allen anderen, hatte sie ihm offenbart, er könne sie einfach nicht befriedigen und eine gute Beziehung sei für sie ohne Sexualität nicht denkbar.
Sechs Monate später hatte er einen Selbstmordversuch gemacht. Sie war sich nicht sicher, ob sie etwas damit zu tun hatte. Aber sie fühlte sich schuldig bis heute. Wenn sie irgendetwas im Leben gerne rückgängig gemacht hätte, dann ein paar hässliche Szenen mit Pikko und ihrer zweiten großen Liebe.
Aber der war es ganz sicher nicht. Den hätte sie wiedererkannt.
Dann begann sie zu beten.
Ann Kathrin ließ die kleinen Häuser mit den grünweiß gestrichenen, verglasten Veranden unter den knorrigen Bäumen des alten Inseldorfes hinter sich und marschierte mit weit ausholenden
Schritten durch das dicke Dünenpolster zum Sandstrand an der Seeseite. Oben auf dem Dünenkamm, wo die Sicht schon frei war aufs Meer, hielt sie inne. Sie war aufgeregt und durchgeschwitzt. Der Wind wühlte in ihren Haaren und ließ sie ihre Augen zusammenkneifen.
Beim Toilettenhäuschen sah sie das Schild:
BETRETEN DER SANDBANK VERBOTEN . LEBENSGEFAHR !
BEI AUFLAUFENDEM WASSER WIRD DER RÜCKWEG
DURCH EINEN PRIEL MIT REISSENDER
STRÖMUNG ABGESCHNITTEN !
JEDERZEIT KANN PLÖTZLICH SEENEBEL AUFTRETEN
Kurverwaltung Spiekeroog
Ann Kathrin reckte sich und hielt nach der Sandbank Ausschau. Hatte Isolde Klocke sich von diesem Schild inspirieren lassen? Und dann die günstige Gelegenheit genutzt? Lebte sie vielleicht noch? Was hatte sie mit der ganzen Sache zu tun?
Ann Kathrin erinnerte sich daran, dass ein gewisser Volker Bogdanski im Gefängnis Duisburg-Hamborn einem Mitgefangenen gegenüber behauptet haben sollte, ihr Vater sei keinesfalls ein zufälliges Opfer geworden, sondern hätte den Banküberfall damals mitgeplant und sei von seinen Kollegen ausgeknipst worden, weil sie nicht mit ihm teilen wollten oder Angst hatten, er würde sie verpfeifen. Dieser Volker Bogdanski war nach seiner Haftentlassung in Hamburg auf dem Kiez bei einem Zuhälterstreit umgebracht worden. Bisher hatte Ann Kathrin seine Aussage nicht wirklich ernst genommen, sondern als wichtigtuerisches Geschwätz eines Kriminellen abgetan, der sich vor seinen Mitinsassen interessant machen wollte.
Aber das hier sah doch sehr nach einer Flucht aus. Hatte Isolde Klocke herausbekommen, was ihr Vater vorhatte? Wollte sie mit ihm gemeinsam fliehen? Hatten sie vor, sich aus dem
bürgerlichen Leben zurückzuziehen? Sollte dieser Coup ihnen einen neuen Anfang ermöglichen?
Ann Kathrin schämte sich für diese Gedanken. Sie hätte sich am liebsten dafür geohrfeigt. Brüllend wie ein ostfriesischer Ochse, der das Brandeisen spürt, rannte Ann Kathrin die Dünen hinunter zum Strand. Zuerst war der Sand staubig und locker, dann fest und hart, bevor er feucht und nachgiebig wurde. Sie rannte immer weiter aufs Meer zu und hörte nicht auf zu brüllen. Es war ihr egal, wie das aussah und wie es sich anhörte. Sollte man sie doch für eine durchgeknallte Irre halten. Es tat ihr einfach nur gut.
Sie verlor beim Laufen erst den rechten Schuh, dann den linken. Sie kümmerte sich nicht darum. Barfuß ging es sowieso besser, und die Sneakers hatte sie eigentlich schon im Laden blöd gefunden. Sie wusste selbst nicht genau, warum sie diesen Mist trug. Vielleicht, um ihren Sohn damit zu beeindrucken, aber den hatte sie seit dem Kauf noch gar nicht gesehen.
Plötzlich ging es bergab. Sie watete durch eine kniehohe Wasserlache, in der kleine Fischschwärme auseinanderzuckten, als ihr Schatten auf sie fiel. Endlich hatte sie auch die letzten Badegäste hinter sich gelassen. Nur noch schräg hinter ihr, in Richtung Wangerooge, stand ein einsamer Brandungsangler und hoffte auf den Fisch seines Lebens. Er war seit Tagen leer ausgegangen und hatte den Spott seiner Familie ertragen. Aber heute würde sich sein Glück wenden, glaubte er, denn ganz nah bei seinem Köder hatte er eine Bewegung im Wasser gesehen. Es war etwas Großes, und es umkreiste seinen Köder. Er hoffte auf eine bratpfannengroße Scholle.
Ann Kathrin lief jetzt auf der Sandbank in Richtung Westen. Sie bildete sich ein, dort hinten Langeoog sehen zu können, aber es war nur eine Spiegelung auf dem Wasser und was sie für ein Hotel hielt, war ein Krabbenkutter mit abgesoffenem Motor.
Weller versuchte,
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