Ostfriesensünde
zusammen. Wenn der Wind hineingriff, klapperten ihre Haare wie kleine Holzbrettchen.
»Ja, wissen Sie das denn gar nicht? Die Leiche wurde überhaupt nicht gefunden.«
Ann Kathrin spürte eine Hitzewelle auf ihrer Haut. Ihre Lippen begannen zu zittern.
Piri Bendlin sah Ann Kathrin die Frage an, obwohl sie sie im Moment gar nicht stellen konnte.
»Nein, es besteht kein Zweifel an ihrem Tod. Es war heftiger
Auftrieb. Dichter Seenebel. Die Touristen unterschätzen das gern. Drei Leute sind mit Müh und Not gerettet worden. Halb erfroren und mit dem Schock ihres Lebens. Aber Isolde Klocke ist nicht zurückgekommen. Sie kann die Insel nicht verlassen haben. Die letzte Fähre war schon weg. Es war alles in ihrem Zimmer. Ich habe die Sachen schließlich zusammengepackt. Die Koffer waren noch offen. Kleidung, Geld, Papiere, es war alles da.
So haben wir auch erfahren, dass sie Isolde Klocke hieß. Sie hatte sich nämlich unter einem anderen Namen eingetragen. Wahrscheinlich, weil sie die Geliebte von Herrn Stein war und niemand das wissen sollte. Ich glaube, sie nannte sich Marie-Luise Rose oder so ähnlich. Jedenfalls ein Name, ähnlich altbacken wie Isolde Klocke.
Als sie gar nicht zurückkam, haben wir natürlich die Polizei verständigt. Es wurde noch lange nach ihr gesucht, aber irgendwann gab man dann jede Hoffnung auf.
Ich mochte sie. Sie war eine gute Frau. Herrn Stein habe ich nie wiedergesehen.«
Kein Wunder, dachte Ann Kathrin. Er wurde ja auch in Gelsenkirchen erschossen.
Ann Kathrin trank den kalten Kaffee gierig aus.
»Herr Stein war also Ihr Vater?«
»Ja«, sagte Ann Kathrin und fügte dann stockend hinzu: »Glaube ich wenigstens … «
So wichtig dieses Gespräch auch für Ann Kathrin war, sie hielt die Anwesenheit von Piri Bendlin jetzt nicht länger aus. Sie wollte allein sein. Sie musste ans Meer. Sie brauchte die Weite, um ihre ausufernden Gedanken einzudeichen.
Was habe ich getan, fragte sie sich. Warum hasst er mich so sehr, dass er mich hier eingemauert hat?
Sie erinnerte sich an einen Klassenkameraden aus der Grundschule.
Ein kleiner, dicker Junge mit abstehenden Ohren und großen Zahnlücken. Er war nicht dumm, aber sie hatten ihn zum Klassenidioten, zum Dorftrottel erklärt. Er wurde von allen gehänselt. Sie hatte nicht damit begonnen, aber damals mitgemacht. Wenn es einen Menschen gab, auf den das Wort »Prügelknabe« zutraf, dann auf ihn.
Sie erinnerte sich nicht einmal an seinen richtigen Namen. Alle hatten »Pikko« zu ihm gesagt. Der mit dem doofen Haarschnitt, den man getrost verspotten durfte. Dem die großen Jungs von hinten die Hose herunterzogen. Den man zwang, all die Pausenbrote zu essen, die keiner mochte.
Pikko mit dem traurigen Blick, der vor Angst stotterte, wenn der Lehrer ihn drannahm. Der nie petzte, egal, was ihm angetan wurde.
Pikko hätte allen Grund gehabt, Amok zu laufen und seine ganze Klasse umzubringen. Aber er hatte sich nicht einmal gewehrt …
Sie verglich vor ihrem inneren Auge das Bild von dem jämmerlichen Pikko mit dem von dem Mann, der sie eingemauert hatte. Es kam vom Alter her nicht hin. Und er sah anders aus. Selbst wenn er sich inzwischen das Gebiss von einem guten Zahnarzt hatte sanieren lassen. Man konnte heute so viel tun.
Vielleicht hatte er sich mittlerweile die abstehenden Ohren operieren lassen. Kontaktlinsen konnten die Augenfarbe verändern, Botox vielleicht gar das asymmetrische Gesicht.
Das alles war fünfundzwanzig Jahre her. Wie sollte man da einen Menschen wiedererkennen?
Sie hatte ihn angefleht, sie laufen zu lassen und immer wieder geschrien: »Warum? Warum ich?«
Er hatte zwar die Hand erhoben, sie aber nicht geschlagen.
»Denk nach«, sagte er. »Geh in dich. Denk nach.«
Nie würde sie diese Stimme vergessen.
Nein. Pikko war das nicht. Der hätte sich eher selbst die Pulsadern geöffnet, damit alle anderen mit ihren Schandtaten leben mussten, mit ihrer nicht mehr wiedergutzumachenden Schuld.
Wem habe ich sonst noch Unrecht getan, dachte sie. Verdammt, wem?
Mit ihrer zweiten großen Liebe, Sven, hatte sie damals auf ziemlich üble Weise Schluss gemacht. Sie schämte sich noch heute dafür, wenn sie darüber nachdachte. Sie war damals auf dem Trip der sexuellen Befreiung und Selbstbestimmung. Während er, der langweiligste Liebhaber, den sie in ihrem Leben gehabt hatte, sich auf ihr abmühte, hatte sie ihn gefragt: »Ist er schon drin?«
Damit war ihr Liebesspiel beendet, falls es jemals eines gewesen war, denn es
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