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Ostfriesensünde

Ostfriesensünde

Titel: Ostfriesensünde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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–, dafür legst du dich krumm, kriegst Magengeschwüre und Haarausfall, und ein anderer kreuzt sechs Zahlen auf einem Lottoschein an und verdient damit mehr als du in zwanzig Jahren harter Arbeit. Oder man meldet sich mit ›Ich höre Hit Radio Antenne‹ am Telefon und kriegt Fünfzigtausend … «
    Erst jetzt begriff Ann Kathrin. »Moment mal, heißt das … war das gerade … Der Schollmayer am Telefon?«
    »Ja. Und ich habe es versemmelt.«
    »Wovon redet ihr eigentlich?«, fragte Huberkran. Statt es ihm zu erklären, sagte Ann Kathrin: »Ich muss für ein paar Tage nach Gelsenkirchen.«
    Huberkran schluckte eine Muschel unzerkaut herunter. »In Gelsenkirchen wurde niemand eingemauert.«
    »Nein, aber dort wurde mein Vater erschossen.«
    Huberkran versuchte, ruhig zu bleiben. »Haben Sie Urlaub eingereicht, Ann Kathrin?«
    Sie stand wortlos auf und verließ den Raum. Sie setzte sich wieder an den Computer und begab sich auf die Seite der Gelsenkirchener Geschichten.
    Judith Harmsen legte sich so auf den rauen Betonboden, dass möglichst wenig von ihrem Körper den Boden berührte. Sie zitterte. Sie hatte nichts, um sich gegen die feuchte Kälte zu schützen.
    Der Durst war schlimmer als der Hunger. Sie hatte inzwischen ihre Tempotaschentücher gegessen. Hauptsache, sie hatte etwas im Magen. Ihre Zunge war dick und aufgerissen, denn sie
leckte die Feuchtigkeit von den Steinen. Jetzt klebten Sand und Zementkrümel auf ihrem Zahnfleisch, aber sie hatte nicht mehr genug Spucke im Mund, um zu schlucken.
    Als Abiturientin hatte sie einen glühenden Aufsatz gegen die Todesstrafe verfasst und ein Buch über die Auswirkungen von Einzelhaft gelesen. Sie hatte sogar einen psychisch kranken Lebenslänglichen besucht, der, weil er einen Wärter attackiert hatte, eine Weile in Einzelhaft saß. Vor nichts hatte er mehr Angst als »vor der Sekunde, wenn das Licht ausgeht«.
    Eine Weile hatte sie ihm ins Gefängnis geschrieben, aber dann verknallte er sich in sie und die Post wurde ihr zu schlüpfrig. Sie hoffte dann nur noch, er würde wirklich nie freikommen. Vor Jahren hatte sie sogar davon geträumt, er stünde grinsend mit erigiertem Penis vor ihrer Tür.
    Sie kannte den Begriff »sensorische Deprivation«, sie wusste genau, was mit ihr geschah.
    Menschen in totaler Isolation verlieren den Sinn für die Realität, sagte sie sich, als sie ihn jetzt auf sich zukommen sah.
    »Du bist nicht echt!«, schrie sie. »Hau ab! Du kannst mir nichts tun! Du bist eingesperrt wie ich!«
    Wenn er wirklich da wäre, könnte ich ihn nicht sehen. Ich sitze ganz im Dunkeln. Ich sehe ihn aber ganz deutlich, also ist er nicht da.
    Sie lachte bitter über die Logik.
    Alles, was ich jetzt sehe, kann nur ein Produkt meiner Phantasie sein. Einbildung! Das ist ein schönes Wort, Einbildung. Man könnte es auch Wahn nennen. Wahn!
    Sie wusste, dass Menschen ein gewisses Maß an menschlicher Interaktion brauchten, um geistig gesund zu bleiben. Wie lange konnte sie in diesem Zustand überleben? Wie lange war sie schon hier? Einen Tag? Eine Woche? Wie lange konnte ein Mensch ohne Essen und Trinken überleben? Sie hatte im Fernsehen Berichte über das schreckliche Erdbeben in der Türkei
gesehen. War dort nicht noch nach elf Tagen eine Frau verletzt, aber lebend aus den Trümmern geborgen worden? Und sie selbst war nicht verletzt. Sie hatte Fieber und Gliederschmerzen. Aber ihr waren keine Trümmer auf die Beine gefallen wie der Frau.
    »So gesehen geht es dir noch gut«, spottete eine teuflische Stimme in ihrem Kopf.
    Ohne Nahrung, dachte Judith Harmsen, hält man es lange aus. Flüssigkeit ist wichtig. Es gab eine feuchte Stelle an der Mauer bei den Kalksandsteinen, wenn sie aufrecht kniete, genau in ihrer Kopfhöhe. Wieder und wieder drückte sie ihre Zunge dagegen.
    Die Pfütze mit dem Urin hatte sie längst aufgeleckt. Wie kostbar das war.
    Sie erinnerte sich an ein Buch von Carmen Thomas. » Urin, ein besonderer Stoff« oder so ähnlich hieß es.
    Sie versuchte, noch etwas aus sich herauszupressen, um etwas zu trinken zu haben. Sie musste diesen Brand im Hals löschen. Irgendwie. Aber aus ihr lief nichts mehr heraus. Ihre Quelle versiegte.
    Dann riss sie einen Knopf von ihrem Hemd und warf ihn weg. Er klickte gegen die Wand, fiel auf den Boden und rollte eine Weile, bis er liegen blieb. Sie lauschte aufmerksam den Geräuschen, die der Knopf machte. Dann begab sie sich auf allen vieren auf die Suche. Es war ein weißer Knopf, das wusste sie aus

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