Ostfriesensünde
ihrer Erinnerung, aber sehen konnte sie ihn nicht. Nur Dunkelheit umgab sie. Schwarz in schwarz ohne eine Schattierung. Was hätte sie für eine Uhr mit Leuchtziffernblatt gegeben, wie ihr Vater sie besaß. Einen Finger? Einen Arm?
Hier musste der Knopf liegen. Sie hatte es doch genau gehört, sie war sich so sicher. Hier!
Ihre Hände sausten über den Beton. Die Haut an den Innenflächen riss auf.
Der Knopf! Wo ist der Knopf? Hier in ihrem kleinen, gottverlassenen Verlies konnte doch nichts verlorengehen!
Sie ertastete einen Klumpen Mörtel. Dann war es ihr, als würde sie die Füße des Lebenslänglichen berühren. Stand er doch hier und amüsierte sich über sie?
Sie schlug nach ihm. Ihre Fäuste landeten im Nichts, bis sie dann, unachtsam geworden, einen rechten Haken voll gegen die Wand schmetterte.
Es tat höllisch weh. Gleichzeitig tat der Schmerz gut, weil sie sich wieder spürte und ihr eigenes Blut trinken konnte. Gierig saugte sie es von ihren Knöcheln.
Ich mache nur Scheiß. Ich verletze mich selber. Ich sehe schon Gespenster.
Ich muss mich beschäftigen. Ich muss den Knopf suchen. Das war eine gute Idee. Ich darf nicht damit aufhören. Die Sinne schulen. Das Gehör. Tastsinn. Nicht die Orientierung verlieren! Den Geist beschäftigen.
Und wo blieb Ansgar? Seine Eltern? Die Polizei …
»Ansgar … Ansgar … Hast du mich im Stich gelassen? Gibt es dich überhaupt oder habe ich mir dich nur eingebildet?«
Sie tastete sich weiter vor. Jetzt ging sie systematisch vor. Den kleinen Finger der linken Hand links gegen die Wand gedrückt, den der anderen Hand gegen die rechte Wand und dann die Daumen langsam über den Boden aufeinander zu bewegen. Ja, so musste es gehen. Sie konzentrierte sich ganz auf die Suche.
Und dann, welches Glücksgefühl, dann fand sie ihn. Wie einen Beweis für ihre geistige Gesundheit drückte sie ihn gegen ihre Brust und hielt ihn dann andächtig hoch wie ein katholischer Priester die Hostie.
Sie küsste den Knopf und warf ihn wieder weg. Er knallte zweimal gegen die Wand, einmal rechts und dann links. Sie lauschte in die Dunkelheit. Diesmal rollte er länger und das Geräusch bewegte sich von ihr weg. Dann fiel der Knopf um,
vibrierte noch ein bisschen und war still. Die Suche konnte erneut beginnen.
Warte, mein Kleiner, warte nur! Ich komme dich holen! Ja, ich komme, mein kleiner Liebling. Ich komme.
Vielleicht ist sie schon tot, dachte er, auf jeden Fall wird sie mir keinen Ärger mehr machen. Ich sollte mir die nächste holen.
Er spielte mit dem Gedanken, sie auch hier einzumauern. Dies war ein guter Ort.
Er konnte ein Sandwich produzieren. Der Gedanke amüsierte ihn. Wie würden sie staunen, wenn sich hinter dem einen Gefängnis noch eines befand. Grab auf Grab. In diesem Raum könnte er glatt noch zwei Mauern einziehen, ohne dass es sofort auffiel.
Es wunderte ihn sowieso, wie wenig die Menschen merkten.
Heute würde er sich das Monster persönlich holen. Er musste nicht weit fahren. Das Zentrum des Bösen lag in Leer am Stadtrand. Er kannte das Gelände gut.
Der Gedanke, ihn sich zu holen und einzumauern, beflügelte ihn. Er würde sofort wissen, warum er in die Dunkelheit geschickt wurde, und wenn es einen Gott gab, dann wartete danach die Hölle auf ihn. Die Hölle war gar nicht genug, sondern dort sollte es der tiefste Ort mit der größten Hitze sein.
Er würde sich mehr wehren als alle anderen, denn er wusste, was ihn erwartete. Er durfte ihm keine Gelegenheit zur Gegenwehr geben.
Eigentlich wollte er ihn sich bis zum Schluss aufheben, aber er durfte nicht länger warten. Das Verbrechen ging weiter. Er kam gar nicht mit der Bestrafung nach. Er musste ihn aus dem Verkehr ziehen.
Die Stimme der Frau war hysterisch. »Hören Sie auf mit dem Irrsinn, Frau Klaasen! Hören Sie einfach auf! Was soll der ganze
Mist? Haben Sie nicht schon genug Unheil angerichtet? Ich lese plötzlich meinen Namen im Internet. Da sind Fotos von mir. Bitte, hören Sie auf!«
»Wer sind Sie?«, fragte Ann Kathrin so ruhig wie möglich. »Mit wem spreche ich?«
»Mit Isolde Klocke.«
Ann Kathrin hatte mit vielem gerechnet, einem neuen Opfer ihres Vaters zum Beispiel, aber ganz sicher nicht mit Isolde Klocke.
»Sie sind vor Spiekeroog ertrunken.«
»Sie kennen die Wahrheit doch längst.«
»Nein, ich weiß nicht, wovon Sie reden. Aber ich bin bereit, Sie überall zu treffen.«
Die Frauenstimme lachte gekünstelt auf: »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich mich mit
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