Ostfriesensünde
wenn ich vorhätte, Badeurlaub im Wintersportgebiet zu machen. Wie wäre es noch mit einer kugelsicheren Weste?«
Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. »Mach’s mir nicht so schwer, Frank.«
»Ann, die gute Frau hat gelesen, was du in den Gelsenkirchener Geschichten geschrieben hast. Jetzt macht sie sich einen Spaß mit dir. Lass dich von diesen Idioten nicht zum Spielball machen. Die führen dich vor und … «
Er sah ihr an, dass sie nicht mehr zuhörte.
»Jajaja«, sagte sie und war innerlich unerreichbar weit weg für ihn.
Der Zug fuhr von Norden bis Gelsenkirchen durch. Ann Kathrin blieb mit ihrem Laptop während der ganzen Fahrt auf der Seite der Gelsenkirchener Geschichten. Ab und zu, so zwischen Marienhafe und Leer, funktionierte ihr web’n’walk nicht, weil die Verbindung zu schlecht war.
Pito hatte Ludwig Stein gemalt und das Bild ins Netz gestellt. Ann Kathrin musste vor Schreck zur Toilette. Das da auf dem Bildschirm war ohne jede Frage ihr Vater. Sogar die Narbe am Hals stimmte exakt. Ihr Vater wirkte auf dem Bild erstaunlich lebendig, ja, unsterblich, so als sei er einem Comicheft entflohen. Eine unverwundbare Figur wie Akim, Tibor oder Sigurd. Sie bewahrte die Comichefte ihres Vaters in ihrer Kinderbuchsammlung auf, ja, gewissermaßen bildeten diese Figuren von Hansrudi Wäscher die Grundlage ihrer Sammlung. Ihren Vater hatte die Leidenschaft aus Kindertagen nie losgelassen. Sigurd, Akim, Nick, Tibor und Falk waren seine Helden und auf Pitos Zeichnung sah er ihnen erstaunlich ähnlich.
Konnte ein Mann, der solche Vorbilder hatte, zum Verbrecher werden? Sie erinnerte sich an die Tränen in seinen Augen, als sie ihm zu Weihnachten die komplette Sigurd-Sammlung als Hardcover
gebunden geschenkt hatte. Er erzählte ihr wieder von den kleinen Piccoloheftchen, die er als Kind so geliebt hatte.
Sofort nahm Ann Kathrin mit Pito Kontakt auf: »Wann haben Sie meinen Vater wo gesehen?«
Pito lud noch zwei weitere Zeichnungen hoch. Eine zeigte Ludwig Stein auf einem Barhocker. Auf der Theke strippten zwei Frauen. »Ludwig Stein lässt die Puppen tanzen« stand unter dem Bild.
Auf dem anderen war ihr Vater mit Beukelzoon zu sehen. Sie standen sich gegenüber wie zwei Revolverhelden im Wilden Westen.
Kim 12 war inzwischen mit einem Treffen einverstanden und schlug den Stadtgarten vor.
Ein Mensch mit dem Pseudonym »Verwaltung« und ein »Heinz« boten Ann Kathrin »jede erdenkliche Hilfe« und ein Treffen an.
Heinz brachte sie zur Imbissbude »Scharfe Ecke«. Dort aß Ann Kathrin nicht nur die beste Currywurst ihres Lebens, nein, sie bekam auch gleich Auskunft, wo ein gewisser Harry wohnte, dessen Bruder angeblich bei der Bundeswehr mal Hubschrauberpilot gewesen war.
Harry hieß in Wirklichkeit Herbert Stämmler und seine Wohnung in der Husemannstraße war mehr eine Wohnhöhle. Hier, dachte sich Ann Kathrin, würde jedes professionelle Putzkommando verzweifelt aufgeben. Da half auch kein noch so starker Schmutzlöser mehr. Benzin und ein Streichholz schienen ihr angemessener. Der Geruch von alten, ungewaschenen Plastiksocken, die es gewohnt waren, Schweißfüße zu beherbergen, mischte sich mit dem von abgestandenem Bier und ranzigem Kartoffelsalat.
Harry wollte Ann Kathrin nicht reinlassen, sondern versuchte, sie an der Tür abzufertigen. Ihr war das im Grunde recht. Sie hatte keine Lust, sein Loch zu betreten.
Er trug gelbe Boxershorts und ein Feinrippunterhemd. Auf dem Hemd klebten Ketchupflecken in einer Reihe. Es sah aus, als hätte er beim Essen versucht, die Ostfriesischen Inseln der Reihe nach auf sein Hemd zu schlabbern. Borkum. Juist. Norderney. Baltrum. Langeoog. Spiekeroog. Wangerooge. Nur Memmert fehlte oder der Fleck war so klein, dass Ann Kathrin ihn nicht sehen konnte.
Entweder ist das ein Designerunterhemd oder echt Abfall, dachte sie.
Attraktive Frauen klingelten nur selten bei Harry alias Herbert Stämmler und wenn, dann kamen sie von Amts wegen. Er musterte Ann Kathrin misstrauisch.
»Ich suche Ihren Bruder, den Hubschrauberpiloten«, sagte sie geradeheraus.
Harry zog sich die Unterhose höher und fragte: »Und wat wollen Sie von dem?«
»Er hat bei einer Verlosung gewonnen. Er wurde ausgesucht, der Glückspilz.«
An Harry vorbei konnte Ann Kathrin durch den Türspalt eine Matratze sehen. Offensichtlich war das Harrys Bett und bis gerade hatte er darauf gelegen und MTV geguckt. Der Fernseher lief noch, aber Ann Kathrin konnte das Gerät nicht sehen.
»Wat hat mein
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