Ostfriesensünde
in den Arm und las ein paar Sätze von Kim 12 auf dem Bildschirm.
Ann Kathrin zitterte innerlich. Weller wollte sie jetzt nicht mit seinem fertigen Essen überfallen. Die Muscheln waren auf den Punkt gar, aber es waren eben nur Muscheln, nichts weiter.
»Sie sagt so fürchterliche Dinge über meinen Vater. Ich kann das nicht glauben, ich will das nicht und ich … ich fürchte doch, dass es stimmt.«
»Es tut dir nicht gut, dich die ganze Zeit damit zu beschäftigen«, sagte er und kam sich dabei sehr mutig vor, als müsse er sie vor sich selbst beschützen.
Sie lehnte sich an ihn, wie seine Töchter es schon lange nicht mehr getan hatten, als wolle sie sich in seinem Hemd verkriechen, um vor der Welt geschützt zu sein, und er begann, Vatergefühle für sie zu entwickeln, was ihn verwirrte.
»Aber«, sagte sie trotzig, »aber ich will doch wissen, wer ich bin … « Dann schüttelte sie sich. »Wer er ist.«
Weller hätte jetzt so gerne etwas Kluges gesagt. Er durchwühlte sein Gehirn wie einen alten Aktenschrank, aber je mehr er spürte, wie sehr sie ihn brauchte, um so inkompetenter kam er sich vor.
Dann hörte er sich sagen: »Klar, das verstehe ich. Phänomenologisch lässt sich leicht zeigen, dass halbwegs gesicherte Identitätsstrukturen in Verhältnissen intersubjektiver Anerkennung verankert sein müssen.«
Sie löste sich aus seiner Umarmung und sah ihn an wie noch nie zuvor in ihrem Leben. In ihren Augen erkannte er die ungläubige Frage, ob das auf seinem Mist gewachsen sei.
Er kam Ann Kathrin mit einem Geständnis zuvor: »Nein, das ist nicht von mir. Das habe ich bei Daniel C. Henrich gelesen. Der Satz war mit Bleistift an den Rand geschrieben. Er ist von Habermas – glaube ich. Mich … mich hat das sehr bewegt. Ich musste fast heulen, als ich das las. Ich bin nicht in »Verhältnissen intersubjektiver Anerkennung« aufgewachsen. Mein Alter hat nur versucht, meinen Willen zu brechen und mich nach
seinen Vorstellungen zu kneten wie Wachs. Aber jetzt geht es nicht um mich, sondern um dich.«
Ann Kathrin fuhr ihm liebevoll durchs Haar. »Du liest diese philosophischen Fachbücher auf der Suche nach. ...«, sie zögerte, es auszusprechen, »auf der Suche nach Lebenshilfe?«
Er ging einen Schritt zurück. »Tun wir das nicht alle?«
Er zeigte auf den Computer. »Ich meine, was machst du da?«
»Ich suche den Mörder meines Vaters.«
»O nein. Du suchst Erleichterung ...«
Sie protestierte halbherzig.
»Und warum sammelst du Kinderbücher?«
Sie schluckte schwer, und in diesem Moment wurde ihr bewusst, wie sehr sie ihn wirklich liebte. Er, der so gern den harten Kerl spielte, war in sich drin immer noch ein verletzter kleiner Junge.
Um nicht länger über Gefühle reden zu müssen, beugte er sich über den Computer und sah sich den Thread von Ann Kathrin genauer an. Er ahnte gleich, das würde dienstlich eine Menge Probleme geben, aber es könnte tatsächlich zum Erfolg führen.
Den Beitrag von Kim 12 hielt er schlicht für den Versuch, Ann Kathrin abzukochen. Interessanter fand er einen Hinweis von einem gewissen Heinz, der angab, in der Imbissbude »Scharfe Ecke«, während er auf sein Schaschlik wartete, unfreiwillig ein Gespräch zwischen zwei Besoffenen mit angehört zu haben. Der eine habe behauptet, sein Bruder sei Hubschrauberpilot bei der Bundeswehr gewesen, bis er wegen ein paar Gramm Koks gefeuert worden sei. Unehrenhaft entlassen, das müsse man sich mal vorstellen. Der andere habe nur gesagt: »Halt endlich die Fresse, Harry.« Aber der sei immer lauter geworden und habe schließlich bekräftigt, sein Bruder, der Arsch, hätte bei einem Riesencoup den Hubschrauber geflogen und würde ihm jetzt
nichts von der Kohle abgeben. Er sei auf Hartz IV und sein Bruder würde sich auf Malle die Eier schaukeln. Der andere habe nur wieder gesagt: »Halt doch endlich die Fresse, Harry.«
»Mir war das Ganze unangenehm«, schrieb Heinz, »und der zweite, er hatte so eine Meckifrisur, merkte natürlich, dass ich alles mitkriegte. Er sah mich an und sagte über seinen Kumpel: »Da sieht man, was der Alkohol aus einem Menschen machen kann. Der war mal ganz normal. Hat sich aber das Gehirn weggesoffen.«
Ich war froh, mein Schaschlik zu bekommen, und verzog mich dann rasch. Dieser Harry muss in der Imbissbude bekannt sein. Ich wette, er wohnt in dem Viertel. Viel Erfolg wünscht euch Heinz.«
»Dieser Harry sollte sich finden lassen, und wenn das keine heiße Spur ist, dann … «
Ann
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