Ostfriesensünde
zum erfolgreichen Immobilienmakler geworden. Der Hippie, der die freie Liebe predigte und sich einen ganzen Harem hielt, vertrat nun als Scheidungsanwalt B-Promis.
Rupert hatte nie zur Fraktion der Aufständischen gehört, trotzdem deprimierte es ihn, was aus den wilden Radikalen geworden war. Er empfand keinen Triumph, weil sie ihre Ideale verraten hatten und ihre Traumschiffe in der rauen See der Wirklichkeit gekentert waren. Die Welt war bunter gewesen mit
ihren Spinnereien. Alles schien möglich, damals vor dem Abitur. Sie waren unsterblich und stark und ihnen gehörte die Zukunft. Sie wollten sie prägen und verändern.
Inzwischen kämpften sie alle nur noch darum, ihren Platz in der Gesellschaft nicht zu verlieren. Plötzlich war er, Rupert, den sie früher gerne Spießie nannten und der nur die pickligen Mädchen abbekam, die andere nicht wollten, nicht mehr das Schlusslicht der Bewegung, sondern geradezu ihre Vorhut.
Er sagte, der Anarchist von damals habe ja immer schon gewusst, wo es langgeht. Bei ihrem letzten Treffen hatte er noch Bullenschwein zu Rupert gesagt und so sehr es ihn damals geärgert hatte, es war ihm stimmiger vorgekommen als diese plötzliche Anerkennung.
Rupert betrank sich mit Astrid, die gerade einen unsicheren Listenplatz für die nächste Landtagswahl ergattert hatte. Früher hatte sie ihn kaum beachtet. Er war irgendwann betrunken genug, ihr zu gestehen, dass er damals in sie verliebt gewesen war. Sie hatte das schüchterne Begehren natürlich nicht wahrgenommen.
Nach mehreren Gläsern Prosecco, Rotwein und schließlich Espressi mit Cognac, waren sie zusammen im Bett gelandet. Nun glaubte Rupert, dass er damals doch nicht viel verpasst hatte, und ihr war alles am anderen Morgen nur peinlich. Sie bat ihn, nicht darüber zu reden. Mit niemandem. Er versprach es und hatte selbst wenig Lust, es herumzuerzählen. Es fuchste ihn, dass sie ihn beim Geschlechtsverkehr »Spießie« genannt hatte.
»Ja, mach’s mir, Spießie! Ja, ich komme, Spießie!«, fand er ziemlich abtörnend.
Er frühstückte zwei Paracetamol, drei Tassen Kaffee und ein Glas Mineralwasser. Er hoffte einfach, der Tag würde rasch vorübergehen, und sagte sich, wie so oft in solchen Situationen, die er einfach nur durchstand: Zum Glück ist heute morgen schon gestern.
Er musste zur Verstärkung der Kollegen nach Leer. An der Entführung bestand kein Zweifel. Eine junge Frau, Monika Schillinger, behauptete, gesehen zu haben, wie der Arzt bewusstlos oder sogar tot im Kofferraum eines schwarzen oder dunkelblauen Autos verstaut wurde. Sie hatte die Szene geistesgegenwärtig mit ihrem Handy gefilmt und die Polizei verständigt. Das Video war verwackelt, ein Nummernschild war nicht zu sehen, aber an der Straftat bestand kein Zweifel.
Am Fahrzeug des Frauenarztes war das Nummernschild abmontiert worden. Die Vermutung lag nahe, dass der Täter es an seinen eigenen Wagen geschraubt hatte, um seine Spuren zu verwischen. Merkwürdige Handlungsweise, aber nicht unbedingt unlogisch.
Rupert erinnerte sich an das Auto der vermissten Judith Harmsen. Es war vor der Bibliothek Ganderkesee gefunden worden und auch dort hatten die Nummernschilder gefehlt.
Rupert fühlte sich unwohl in der Frauenarztpraxis. Dieser Stuhl, diese Geräte, dieser Geruch, nein, das war nicht seine Welt. Er vernahm im Vorzimmer eine der drei Arzthelferinnen, die den Terminkalender und die Patientenkartei verwalteten.
Sie hieß Ute Kerner, und Rupert sah ihr ungeniert auf den Hintern, als sie sich bückte, um eine Patientenkarte unten im Aktenschrank zu verstauen.
Rupert fragte sich, ob ein Frauenarzt so etwas überhaupt noch sah.
Er fragte, einer plötzlichen Idee folgend, Ute Kerner wie beiläufig, ob Judith Harmsen Patientin bei ihnen sei. Frau Kerner verneinte.
Rupert glaubte ihr nicht. Er verlangte Einsicht in die Patientenkartei. Ute Kerner verweigerte dies mit dem Hinweis auf höchst interne Daten.
»Das ist mir scheißegal!«, polterte Rupert. Bevor er ausführen konnte, wie leicht es ihm möglich wäre, eine richterliche Anordnung
zu erreichen, tippte sie ihr Passwort in den Computer ein, rief die Liste auf und sagte: »Da, bitte schön.«
Dann schloss sie demonstrativ alle Aktenschränke auf und zog die Hängeablagen heraus.
Als Rupert sich die alphabetisch geordnete Liste der Patientinnen ansah, schoss eine Ladung Adrenalin durch seine Adern. Es ging ihm augenblicklich gut. Keine Kopfschmerztablette hätte so wirken können. Rupert
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