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Ostfriesensünde

Ostfriesensünde

Titel: Ostfriesensünde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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sie Weller an. Sie wusste, dass er, wenn sie nicht bei ihm war, das Handy griffbereit hielt. Auch nachts.
    »Frank, ich weiß, was er will. Er bringt seine Opfer zurück in einen embryonalen Zustand. Wenn man einen Embryo von der Nabelschnur abschneidet, stirbt er.«
    »Ja klar, aber … «
    »Frank, darum geht es. Ich bin mir sicher.«
    »Und was bedeutet das?«
    Die Antwort auf die Frage lag für Ann Kathrin so klar auf der Hand, dass sie sich über Wellers Frage wunderte.
    »Er will die Frauen daran erinnern, wie es ist, als Embryo im Bauch zu sein.«
    Sie hörte, dass Weller sich eine Zigarette anzündete. Sie fuhr ihn an: »Du sollst in unserem Schlafzimmer nicht rauchen!«
    »Ich bin nicht im Distelkamp, Ann. Ich bin mit Huberkran unterwegs. Wir sind im Hotel.«
    Sie fragte nicht einmal, in welcher Stadt er sich befand. Sie sprach einfach weiter und entwickelte ihre Theorie, während sie redete.
    »Er zwingt die Menschen, über sich nachzudenken. Er wirft sie ganz auf sich selbst zurück. Man kann sich dann nicht mehr drücken, es fallen einem alle Sünden ein. Man fragt sich, warum bin ich hier? Was habe ich mit meinem Leben gemacht? Wem habe ich wehgetan? Gegen welche Regeln verstoßen? Und je weniger Antworten man erhält, umso tiefer gräbt man in sich und wird immer kleiner und … «
    Sie wurde kurzatmig. Sie ging zum Fenster und riss es auf.
    »Und was, Ann?«
    Sie atmete einmal durch, bevor sie ganz sachlich sagte: » … stellt fest, ob die Frauen abgetrieben haben.«
    »Du meinst, er ist ein militanter Abtreibungsgegner?«
    »Nein, er ist einen Schritt weiter. Er will keine Abtreibungen verhindern, er will, dass die Frauen bereuen, und er bestraft sie für ihre Tat mit dem Tod. Ja, genau das macht er.«
    Auch Weller inhalierte tief, allerdings Zigarettenrauch.
    »Ann, wir wissen nicht einmal, ob auch nur eine der Frauen jemals schwanger war, geschweige denn, ob sie eine Abtreibung gehabt haben. Die Familien und Freunde wurden ausführlich befragt. Da ist kein Hinweis auf … «
    »Stell dich nicht so blöd an, Frank! Deshalb konnte kein Kontakt zwischen ihnen festgestellt werden, keine Gemeinsamkeit. Die Familien wissen vielleicht gar nichts davon. Wer geht schon mit einer Abtreibung hausieren?«
    »Ja, Ann, das mag ja alles sein, aber es ist eine reine Vermutung. Darauf können wir keine Fahndung aufbauen. Schlaf dich jetzt erst mal aus, es ist halb fünf. Die Nacht ist bald um.«
    »Ja, ja, ja! Verdammt, hör mir zu, Frank! Die Frauen waren jung, auf jeden Fall im gebärfähigen Alter. Sie wurden schwanger. Sie haben es ihren Familien verschwiegen. Sie haben die Sache diskret geregelt. In einer Klinik irgendwo. Nicht bei ihrem Hausarzt. Sie haben sich außerhalb ihres normalen Lebensraums Hilfe gesucht, an einem Ort, an den sie nie wieder zurückkehren mussten. Und dort gibt es Akten über sie und … Verdammt, er arbeitet in einer Abtreibungsklinik oder er hat auf jeden Fall Zugang zu den Akten!«
    »Scheiße, Ann, das gibt einen Sinn. Aber was soll ich Huberkran sagen? Dass du die Antwort auf unsere Fragen geträumt hast?«
    »Du glaubst mir nicht?«
    »Doch, Ann, aber … «
    »Dann weißt du ja, was zu tun ist. Auf mich dürft ihr nicht rechnen. Ich bleibe in Gelsenkirchen.«
    Sie küsste ihr Handy und hauchte ihrem Frank ein »Gute Nacht« ins Gerät, aber die hatte er nicht. Er verließ das Hotel Fürstenhof in Wiesbaden um kurz vor sechs. Er ging im Park bei der Spielbank spazieren. Zwei Schwäne begleiteten ihn schnatternd.
    Er rauchte noch eine. Er fror. Heute um elf Uhr war die große Gruppenbesprechung im BKA angesetzt. Alle Ergebnisse wurden zusammengetragen. Sollte er dort wirklich mit Ann Kathrins Theorie herauskommen? Würde irgendwer verstehen, warum sie nicht anwesend war? Er fand ihre Argumente plausibel, war sich aber nicht sicher, ob es vielleicht nur daran lag, dass er diese Frau liebte. Vielleicht würden andere Menschen das alles für hirnverbrannten Schwachsinn halten.
     
    Es hätte ein schöner Abend werden sollen. Ein Klassentreffen nach fünfundzwanzig Jahren. Rupert hatte sich sehr auf seine alten Kumpels gefreut. Aber dann war die Stimmung von früher trotz aller Beschwörungen nicht mehr aufgekommen.
    Aus dürren Revolutionären von einst waren feiste Spießer geworden. Der junge Anarchist, der die neue Gesellschaftsordnung durch radikale Verweigerung und Nichtanerkennung aller bestehenden Hierarchien herbeiführen wollte, Klassensprecher und Barrikadenkämpfer, war

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