Ostseeblut - Almstädt, E: Ostseeblut
Mädchen.
»Was denn für ein Typ?«, hakte Katja nach.
Timo musterte sie überrascht. Sie machte sich nichts aus Kindern. Ihr Sohn Alexander lebte bei seinem Vater und kam nur gelegentlich für ein Wochenende zu Besuch. Und selbst dann beschäftigte er sich mehr mit dem Jungen als Katja. Sie versorgte ihn mit Nahrung, wie sie spöttisch zu sagen pflegte, kaufte ihm neue Klamotten oder mal ein Spiel für die Playstation, das war’s aber auch schon. Es war ungewöhnlich, dass sie die Kinder überhaupt beachtete.
Der Junge und das Mädchen wechselten einen Blick.
»Ich hab da einen komischen Typen in der Nähe des Postens ›Tanne‹ gesehen«, sagte er verlegen. Die Posten der Kinderstrecke waren nicht nummeriert, sondern mit Bildchen versehen, damit auch Kinder, die noch nicht lesen konnten, eine Chance hatten. Die älteren fanden das peinlich.
»Einen Spaziergänger?«
»Weiß nicht. Ich hatte das Gefühl, dass er uns beobachtet.«
Die Erwachsenen wechselten Blicke. Ein Spaziergänger war kein Problem. Manchmal sah auch der Förster nach dem Rechten, wenn ein Orientierungslauf stattfand. Die auf den Karten markierten Sperrzonen zu überlaufen war streng verboten, aber es passierte trotzdem hin und wieder, dass sich einer der Läufer nicht daran hielt. Doch es konnten sich alle möglichen Leute im Gelände herumtreiben …
»Hat er euch angesprochen?«, fragte Landwehr.
»Nein«, versicherte das Mädchen. »Der hat nur Vögel beobachtet. Lasse hat zu viel Fantasie.«
Das Gesicht des Jungen wurde noch röter. Er zuckte mit den Schultern und schlenderte dann betont lässig zu dem Tisch hinüber, auf dem eine Thermoskanne mit Tee und Kuchen für die Läufer bereitstanden.
Katja warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Ich werde mich mal warmlaufen. Ich bin gleich dran.« Sie küsste Timo flüchtig auf die Wange und trabte los.
Er sah ihr gedankenversunken nach. Die Ehe mit Katja war ihm nie besonders harmonisch erschienen. Das war auch nicht das, was er wollte. Auseinandersetzungen gehörten zu einer Beziehung dazu, aber in letzter Zeit übertrieb es Katja mit ihren Sticheleien. Timo erinnerte sich wieder daran, wie sein Bruder Michael ihn wenige Wochen vor der Hochzeit zur Seite genommen und gewarnt hatte.
»Überleg dir das mit Katja lieber noch mal. Frauen wie die brechen dir irgendwann das Herz«, hatte er ihm unter Einfluss mehrerer Gläser Bier zugeraunt.
»Halt dich da raus. Du kennst Katja doch gar nicht.«
»Sie ist nicht so wie meine Chrissie. Wie Mädchen, mit denen wir aufgewachsen sind, Timo. Denk mal daran, was sie durchgemacht hat. Wo sie herkommt.« Die Anspielung galt Katjas Jugend, die sie zum größten Teil in irgendwelchen Heimen verbracht hatte. Michael arbeitete als Sozialarbeiter in einer Wohngruppe mit schwer erziehbaren Jugendlichen, was ihn seiner Meinung nach dazu befähigte, über Katjas Charakter zu urteilen.
»Ich kenne Katja, und ich vertraue ihr.«
Sein Bruder hatte in sein frisch gezapftes Bier geschnaubt, sodass die Schaumflocken aufgeflogen waren. »Katja hat andere Werte als wir. Sie wird dich anlügen, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie kann nichts dafür, aber wenn sie eins gelernt hat, dann, dass es nur einen Menschen auf der Welt gibt, auf den sie sich verlassen kann: sie selbst.«
»Bei Katja ist das anders. Halte du dich da raus, Micha!«, hatte er ihn angefahren.
Sein Bruder hatte das Thema nie wieder angesprochen. Und jetzt, Jahre später, musste Timo wieder an die Warnung denken. Katja hatte ihm gestern Abend ihre Pläne für die Zukunft dargelegt. Den Grund dafür, dass sie seltener in der Praxis erschien und abends oft so spät nach Hause kam. Verdammt, er liebte sie! Ihre Vergangenheit würde nicht zerstören, was sie sich in den Jahren gemeinsam aufgebaut hatten. Er musste Vertrauen haben … und Geduld. Timo beobachtete, wie sie jetzt in Richtung Startplatz lief. Sie hatte noch ein paar Minuten, bis sie ihre Laufkarte erhalten würde. Doch etwas stimmte nicht. Katja wurde langsamer, humpelte und blieb mit verzerrtem Gesicht stehen.
Timo ging zu ihr hinüber. »Was hast du?«, wollte er wissen.
»Ich bin im Wald in ein Loch getreten und umgeknickt. Erst dachte ich, es ist nichts, aber jetzt tut mein Knöchel höllisch weh.«
Er beugte sich hinunter und betastete ihr Fußgelenk. »So kannst du nicht starten, Katja.«
»Es geht gleich wieder. Ich bin jetzt dran.«
Eine Verstauchung, wenn nicht etwas Schlimmeres, dachte er. Sie waren beide Ärzte,
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