Ostseeblut - Almstädt, E: Ostseeblut
keine Lust, stundenlang in irgendeiner Notaufnahme herumzusitzen. Timo hätte Solveigh geholfen. Er hatte darauf bestanden, stets medizinisches Material im Haus zu haben, seit ihr Sohn Alexander mal nach einem Sturz mit dem Roller hatte versorgt werden müssen. Er, nicht sie, hatte darauf geachtet, dass sie auf kleinere bis mittlere Verletzungen, wie Kinder sie sich von Zeit zu Zeit zuzogen, vorbereitet waren.
»Hast du irgendwelche Allergien, Solveigh?«
»Das weißt du doch. Hausstaub, Schimmelpilze, ein paar Pollen … Aber nicht mehr so schlimm wie früher.«
»Ich frage das wegen der Betäubung. Bist du allergisch gegen Lokalanästhetika?«
»Ich weiß es nicht.«
»Dann muss es ohne gehen.« Katja fühlte eine grimmige Befriedigung. Vielleicht würde der Schmerz ihre Freundin lehren, in Zukunft achtsamer mit sich umzugehen. Solveigh nickte schwach. »Aber ich tue es nur unter einer Bedingung: Du versprichst mir, dich sofort von Rainer zu trennen. Bevor er nicht in Therapie war und du sicher sein kannst, dass so was nicht wieder vorkommt, gehst du nicht zu ihm zurück.«
»Wie soll das gehen?«
»Du kannst erst mal hierbleiben. Das Haus ist groß genug. Jetzt allemal … Von hier aus kannst du dir eine eigene Wohnung in Lübeck suchen.«
»Aber ich habe doch nicht mal ein Auto …«
»Ich diskutiere das nicht mir dir. Wenn ich dir helfen soll, dann versprichst du mir, dass du ihn verlässt.«
Solveigh zögerte. »Ich werde es versuchen, ehrlich, Katja.«
»Versuchen reicht nicht. Siehst du nicht, was er aus dir macht? Sieh den Tatsachen doch endlich mal ins Gesicht!«
»Das ist nicht dein Problem, Katja«, sagte Solveigh fest.
Katja staunte, welch mentale Kraft Solveigh ihr entgegensetzte, wenn es darum ging, an ihrem Unglück festzuhalten. So, wie sie es gesagt hatte, implizierte sie, dass sie, Katja, ebenfalls gravierende Probleme hatte. Und damit lag sie richtig.
»Du bleibst hier sitzen und rührst dich nicht. Ich hole ein paar Sachen. Und es tut weh, verlass dich drauf!«
»Alles, was du willst«, sagte Solveigh unterwürfig, aber auch zufrieden.
Katja verspürte eine gewisse Vorfreude bei dem Gedanken daran, dass sie Solveigh gleich Schmerzen zufügen würde. Ja, in diesem Moment konnte sie Rainer Halbys Hang zu Handgreiflichkeiten seiner Frau gegenüber fast nachvollziehen.
»Warum zeigen Sie mir das alles?«, fragte Pia.
»Damit Sie besser verstehen, was damals passiert ist«, sagte Marianne Fierck. Sie führte Pia auf einem gewundenen Weg immer tiefer in den Wald hinein. Das Gelände der Uhlenburg schien riesig zu sein. Unzählige Gebäude in verschiedenen Stadien des Verfalls waren links und rechts des Weges zu sehen.
»Wie viele Menschen waren hier früher beschäftigt?«
»Ich schätze, zu meiner Zeit waren es bis zu sechzig oder siebzig Personen. Nicht alle haben auch hier gewohnt. Viele kamen aus der näheren Umgebung. Es gab diverse Werkstätten: eine Schlosserei, Tischlerei, Gärtnerei, Wäscherei, die Küche, eine Schmiede, eine eigene Krankenstation. Viele der Mädchen, die ihre Schulausbildung beendet hatten, haben im Anschluss daran ihre Ausbildung bei uns gemacht.«
Sie überquerten eine geteerte Straße, die Uhlenburger Allee, und das Gelände stieg leicht an. Mit einem Mal erblickte Pia durch die Baumkronen hindurch kalkweiße Zinnen. Die neogotischen Formen der Uhlenburg ließen entfernt an ein Märchenschloss denken, aber die Atmosphäre unter den hohen Bäumen war bedrückend.
»Da vorn sehen Sie das Hauptgebäude«, erklärte Marianne Fierck. »Zwei der Flügel waren Gruppenhäuser. Das Kavaliershaus und das Möwenturmhaus hier vorn, benannt nach dem kleinen Turm, den Sie da vorne sehen. Dort waren meine Gruppen untergebracht.« Sie deutete nach rechts: »Neben dem Torhaus befand sich das Verwaltungsgebäude. Zu Heimzeiten gab es hinter dem Kavalierhaus noch einen Anbau, in dem drei weitere Gruppen untergebracht waren, unter anderem auch die geschlossene Abteilung.«
»Die Mädchen waren eingesperrt?«
»So war das damals.«
»Warum zeigen Sie mir das alles? Was soll ich verstehen?«, beharrte Pia, die Zweifel an Sinn und Zweck ihres Ausflugs bekam. In ihrem Büro türmte sich die Arbeit.
»Die Gruppen waren, wenn es gut lief, eine Art Familienersatz für die Mädchen. Ich habe Ihnen doch von den vieren erzählt, die so eng befreundet waren: Katja Simon, Janet Domhoff, Tamara Kalinoff und Solveigh Pahl.«
»Das haben Sie.«
»Und ich habe Ihnen doch von
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