Ostseeblut - Almstädt, E: Ostseeblut
Tamaras Selbstmord erzählt? Es gibt aber noch mehr Tote.«
»Wovon sprechen Sie?«, fragte Pia atemlos. Nicht nur weil sie hoffte, endlich etwas Wichtiges zu erfahren, sondern auch weil der Marsch bergauf und bergab sie in ungewohnter Weise anstrengte.
»Von einem Autounfall auf Korfu. Einem tödlichen …«
»Aha. Wer ist gestorben?«, hakte Pia ernüchtert nach.
»Janet Domhoff. Eine der Freundinnen.«
»Und warum erzählen Sie mir das erst jetzt?«
»Ich habe nicht daran gedacht, als wir das erste Mal miteinander gesprochen haben. Aber es stand neulich in der Zeitung. Hier … das ist die Ausgabe.«
Pia nahm eine zusammengefaltete Zeitung entgegen, schlug sie auf und überflog den Artikel. »Traurig. Aber was hat das mit den Ermittlungen zu tun?«
»Na ja. Jetzt bleiben nur noch Solveigh Pahl und Katja Simon …«, sagte Marianne Fierck in düsterem Tonfall.
»Ja, und?«
»Nur zwei der vier Mädchen sind noch am Leben, und der Ehemann von Katja Simon ist ebenfalls tot – ermordet. Sie sind Polizistin. Finden Sie nicht, dass das ein paar Todesfälle zu viel sind?«
»Nicht unbedingt«, antwortete Pia und starrte zu den leeren Fensteröffnungen des Möwenturms hinauf. »Oder vielmehr, ich sehe keinen Zusammenhang.«
»Möchten Sie sich anschauen, wo Tamara ums Leben gekommen ist?«
Pia machte eine vage Kopfbewegung. Marianne Fierck würde nicht eher Ruhe geben, bis sie gezeigt hatte, was sie ihr zeigen wollte. Und der Arbeitstag war sowieso fast gelaufen. Hier im Wald dämmerte es schon.
»Die Schwimmhalle lag unterhalb des Hauptgebäudes im Wald. Sie wurde vor ein paar Jahren abgerissen, obwohl sie erst in den Siebzigern erbaut worden ist. Zwischen der Burg und der Schwimmhalle befanden sich auch noch die Wäscherei und das Magazin. Das ist alles schon länger weg.«
»Ein Magazin?«
»Ein Haus mit offenen Spinden, in denen die Kleidung der Mädchen aufbewahrt wurde.«
Pia fröstelte. »Glauben Sie, eines der anderen drei Mädchen hatte etwas mit Tamara Kalinoffs Tod zu tun?«, fragte sie.
»Vielleicht wusste ja eine, wer der Kindsvater war? Manchmal denke ich, es war doch jemand aus dem Heim.« Marianne Fierck ging weiter, ohne sich nach Pia umzusehen. Sie führte sie eine rutschige, mit Kopfsteinpflaster belegte Straße hinunter.
»Sie sagten mir neulich, dass Tamara mit einem jungen Mann aus dem Dorf befreundet war.«
»Ja. Er war sofort verdächtig, aber er hat geleugnet, sie geschwängert zu haben. Und er hatte ein Alibi für die Nacht, in der Tamara starb. Ein Problem damals war, dass die Mädchen in Kargau einen so schlechten Ruf hatten. Bei dem, was einige von ihnen schon durchgemacht hatten: Gewalt, Missbrauch, Prostitution … Tamaras Freund hat sich das zunutze gemacht und behauptet, nicht der Einzige gewesen zu sein, mit dem Tamara geschlafen hat. Aber es ließ sich nicht beweisen. Hier stand übrigens die Schwimmhalle.«
»Tamaras Freundinnen müssen doch etwas gewusst haben!«, sagte Pia mit Blick auf die mit Unkraut überwucherte Fläche. Der Wald hatte die Narbe, die das Gebäude hinterlassen hatte, fast schon wieder geschlossen. Im Gegensatz zu der seelischen Narbe, die Marianne Fierck ganz offensichtlich mit sich herumtrug.
»Müssen sie? Tatsache ist, dass die drei Mädchen, selbst wenn sie es wussten, nie etwas verraten haben. Ich sage das nur ungern, aber einige Mädchen im Heim konnten einem ins Gesicht lügen, ohne sich weiter darüber Gedanken zu machen. Und wie gut sie das konnten! Das habe ich auch erst lernen müssen. Man konnte es ihnen nicht mal übel nehmen. Es war … Überlebensinstinkt.«
»Wissen Sie, wer Tamara Kalinoffs Freund war?«
»Sicher. Er lebt immer noch hier in Kargau.«
»Wie heißt er?«
»Sein Name ist Sven Waskamp.«
Als Pia im Auto saß und das Waldgelände hinter sich ließ, atmete sie erleichtert durch. Sie folgte Marianne Fiercks Wegbeschreibung und überquerte die Hauptstraße. Dann bog sie in eine neu angelegte Wohnstraße ein, die sie zu Sven Waskamps Haus führen sollte. Vor einem rot geklinkerten Gebäude mit Walmdach und weißen Sprossenfenstern hielt sie an. Das Haus stand auf einem gärtnerisch angelegten Grundstück, das im Hintergrund von einem Knick begrenzt wurde. Eine begehrte Feldrandlage. Marianne Fierck hatte sie darüber informiert, dass Sven Waskamp allein lebte, sodass der silberne Audi im Carport Pia zuversichtlich stimmte, was ihr Vorhaben anging, ihn ohne Voranmeldung zu Hause anzutreffen.
Sven Waskamp war
Weitere Kostenlose Bücher