Ostseefluch
eilig. Ihre Tochter war ermordet worden. Derjenige, der das getan hatte, hatte gesündigt und schwere Schuld auf sich geladen. Doch vielleicht war es Vorsehung gewesen? War damit ihre Tochter gerettet worden vor einem Schicksal schlimmer als der Tod? Ihre unsterbliche Seele ... Milena ...
Judith startete den Wagen, bog in die Straße Hinterm Kirchhof und dann nach links in die Priesterstraße ab. Sie fuhr langsam die Breite Straße hinunter.
Bis zu ihrem zwölften Lebensjahr war Milena ein Gottesgeschenk für sie gewesen. Die Freude ihres Lebens – Wiedergutmachung für jedes Leid und jede Ungerechtigkeit, die ihr bis dahin widerfahren waren: Der frühe Tod der Mutter, das freudlose Leben mit dem jähzornigen Vater ... Judith hatte als Mutter alles besser machen wollen. Sie war fest entschlossen gewesen, alles Menschenmögliche zu tun, damit Milena eine gesegnete, glückliche Kindheit erleben durfte.
Als Judith Ingwers in die Sahrendorfer Straße abbog, übersah sie einen Radfahrer und nahm ihm die Vorfahrt. Der Fahrer gestikulierte wütend. Sie musste sich zusammenreißen, wenigstens im Straßenverkehr ... Hinter Burg begannen die Felder, die ausgedörrt in der Mittagssonne lagen. Judith Ingwers blinzelte und klappte die Sonnenblende herunter. Sonnenbrillen waren in ihren Augen nur eitler Tand.
Milena ... An das eine, dass sie Gottes Hilfe dafür erbitten musste, daran hatte sie nicht gedacht. Bis es zu spät gewesen war. Bis schleichend, aber unaufhaltsam das Gift in ihr Kind gedrungen war. Das Gift fleischlicher Begierde und weltlicher Eitelkeit. Wollust, Faulheit und ihr Drang, Lügen zu erzählen. Und je stärker Rudolf dagegengehalten hatte, desto mehr hatte Milena sich gegen sie beide aufgelehnt. Bis sie fortgegangen, bis sie sich ihnen angeschlossen hatte – bis sie, in letzter Konsequenz, dafür mit ihrem Leben bezahlt hatte.
Judith atmete tief durch. Sie musste lernen, ihr Schicksal ohne Groll anzunehmen. Sich befreien von Hass und Angst. Dann hatte sie auch nichts zu befürchten. Der Herr ist mein Hirte, er wird mich führen ... Doch warum steigerte sich dann ihre Beklommenheit zu nackter Panik, je näher sie ihrem Zuhause kam?
»Rudolf hat sie mir weggenommen«, sagte Judith und erschrak über den rauen Klang ihrer Stimme. So etwas durfte sie nicht denken. Nicht jetzt. »Herr, vergib mir.«
Als sie in die Auffahrt ihres Hauses bog, brachte das Radio eine Unwetterwarnung. Für die Lübecker Bucht wurden Gewitter mit starken Regenfällen oder sogar Hagel vorhergesagt. Ein Gewitter würde nicht schaden, so schwül wie es war. Man bekam ja kaum noch Luft.
Als sie aus dem Auto stieg, spürte Judith die aufgeheizten Steine unter ihren Füßen. Sie sah zum Himmel. Ein bedrohlich aussehendes Wolkenband am Horizont, das sich vielleicht bis Fehmarn ausbreiten würde ... vielleicht. Auf der Insel hatten sie oft anderes Wetter als auf dem Festland. Sollte sie ihren Wagen nicht lieber in die Garage fahren? Wenn es nun wirklich hagelte ...
Vor ein paar Jahren waren Hagelkörner, so groß wie Tennisbälle, heruntergekommen. In der Doppelgarage stand Rudolfs Land Rover. Sein zweitbestes Stück war nicht vollkommen wasserdicht. Und es hatte noch weitaus mehr Mängel, soweit Judith das beurteilen konnte. Eigentlich war es mehr ein Hobby, das sich auch bewegte ... Aber Rudolf liebte dieses Vehikel. Wenn sie ihren Kleinwagen dazustellte, musste Rudolfs Mercedes später bei Hagel womöglich draußen stehen. Das schöne Stoffverdeck ... Andererseits würde Rudolf heute ohnehin nicht vor zehn heimkommen, und wenn er so spät kam – leicht angetrunken, wie sie vermutete –, war er meistens zu faul, noch in die Garage zu fahren. Und bis dahin würde das angekündigte Gewitter sowieso schon vorbeigezogen sein.
Judith Ingwers öffnete das Tor. Im Innern der Garage war es dämmrig. Sie war den Land Rover vorgestern zuletzt gefahren, als sie die Hunde trainiert hatte. Er stand so da, wie sie ihn abgestellt hatte: die Seiten schlammbespritzt, in den Schutzgittern vor den Scheinwerfern hingen trockene Gräser. Es roch hier ... nicht gut. Judith wich zurück, sprang in ihren Wagen und startete den Motor.
Mit dem kleinen Auto war es ein Leichtes, neben dem Geländewagen Platz zu finden. Als sie ausstieg, wurde Judith übel. Die Luft war trotz des geöffneten Tores zum Schneiden dick. Und es roch ... nein es stank ... einfach ekelhaft. Der Geruch war ihr eben schon in die Nase gestiegen, als sie das Tor geöffnet hatte,
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