Ostseefluch
wo sie damals die Leichen gefunden haben. Ich wollte mir den Keller gern anschauen, schon wegen des Fluchs. Dort lagen sie nämlich aufgereiht: die Mutter und zwei ihrer Kinder.«
»Vielleicht will man das nicht so genau wissen, wenn man dort wohnt?«
»Meinen Sie?«
»Hat Milena Ingwers etwas über die aktuelle Situation im Haus gesagt?«
»Nur, dass der Typ, der mich nicht reinlassen wollte, und auch seine Freundin – die kam später übrigens auch noch kurz dazu – wahre Wohltäter seien. Und dass sie froh sei, dort Unterschlupf gefunden zu haben. Es war ihr egal, was die Leute über Mordkuhlen reden.«
» Unterschlupf . Hat Milena Ingwers dieses Wort benutzt?«
»Hat sie. Ich habe ein exzellentes wörtliches Gedächtnis. So etwas«, er deutete auf das Aufnahmegerät, das Broders zwischen sie auf den Tisch gestellt hatte, »brauche ich nicht. Ich behalte alles im Kopf.«
»Wunderbar.« Pia rieb sich die Stirn. »Was interessiert Sie so an Mordkuhlen? Der Fall Bolt ist alt. Und es ist kein Geheimnis, was dort vor so vielen Jahren passiert ist.«
»Nun, der Mord an sich ist ja nur die eine Seite der Medaille. Viel spannender finde ich, was die Leute mit der Zeit daraus gemacht haben: eine moderne Legende. Der Fluch von Mordkuhlen.«
»Können Sie uns aufklären? Was besagt dieser Fluch?«
»Es ist nur eine mündliche Überlieferung. Ich habe nichts Schriftliches dazu gefunden. Bolt – der Mörder – soll ein in sich gekehrter, scheuer Mann gewesen sein. Er ist zur See gefahren. Handelsmarine. Eines Tages, als er von einer Seereise heimkehrte, hat er seine Frau mit einem Messer erstochen, die beiden Töchter im Schlaf erstickt und die Leichen fein säuberlich im Keller abgelegt. Er hatte auch einen kleinen Sohn, aber der konnte sich wohl vor ihm verstecken. Jedenfalls hat ein Kind überlebt. Ich recherchiere noch, wo es jetzt steckt. Nach der Mordtat hat Bolt sich dann, wohl in einem Anfall von Reue, selbst erschossen. Eine Nachbarin hat den Toten in der Küche auf dem Fußboden entdeckt. Mit seinem Gewehr, das lag neben ihm. Seine Kleidung soll nass gewesen sein – von Meerwasser. Das ist ein schönes Detail in der Überlieferung, finde ich. Es heißt, er habe auf See den Verstand verloren. Irgendetwas ist mit ihm passiert, sodass er zum Mörder wurde. Gruseliger Stoff. Das beflügelt die Fantasie der Leute. Und die Tatsache, dass das Haus durch und durch feucht ist. Ein späterer Bewohner hat immer wieder Probleme mit Wasser im Haus gehabt. Es kam aus jeder Ritze. Vor allem im Keller, in dem Raum, wo Bolt die Leichen abgelegt hatte. Feuchte Flecken auf dem Boden, wie Abdrücke der Leichen, die immer wiederkamen. Und Geräusche will dieser ehemalige Mieter nachts gehört haben: Stöhnen und Schreie. Schauen sie mich nicht so ungläubig an! Das ist nur das, was die Leute sich über Mordkuhlen erzählen.«
»Haben Sie den Mann, der nach den Bolts auf Mordkuhlen gewohnt hat, selbst gesprochen?«
»Ja. Aber er ist schon sehr alt und will nicht mehr darüber reden.« Ebel blinzelte.
»Was passierte danach mit dem Haus?«
»Es war noch mehrmals kurz vermietet, stand jedoch auch immer wieder leer.«
»Wem gehört das Haus jetzt?«
»Immer noch den Rosinskis. Reiche, alteingesessene Bauern. Sie haben es den Leuten, die zurzeit dort wohnen, vermietet.«
»Und jetzt ist wieder ein Mord dort passiert.«
»Ich will ja nicht gefühllos erscheinen, aber ist das nicht faszinierend? Irgendetwas muss wohl doch dran sein, an diesem seltsamen Fluch.«
»Was hältst du von dem Gerede über einen Fluch?«, fragte Broders, als sie Oldenburg verließen.
»Ich habe eine echte Schwäche für solche Geschichten«, sagte Pia spöttisch. »Besonders das Detail mit dem Meerwasser gefällt mir. Das würde ich gern mal anhand der alten Akten überprüfen.«
»Zum Glück suchen wir hier nicht den Mörder der Familie Bolt. Ich hasse diese angestaubten Fälle, bei denen die eine Hälfte der Zeugen an Demenz leidet und die andere tot ist. Mit so etwas verzettelst du dich nur.«
»So lange liegt die Sache nun auch wieder nicht zurück. Und dieses verschwundene Kind sollten wir nicht ganz unbeachtet lassen. Es muss heute zwischen Ende zwanzig und Mitte dreißig sein. Wo ist es geblieben?«
»Solange es sich nicht auf Mordkuhlen herumtreibt, braucht uns das zum Glück nicht zu kümmern. Ich an seiner Stelle hätte die größtmögliche Entfernung zwischen mich und diese Insel gebracht ...«
»Jesko Ebel wird alles
Weitere Kostenlose Bücher