Ostseefluch
überraschend für ihn.
»Arbeiten Sie für eine bestimmte Zeitung?« Pia hatte das Gefühl, ihn schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Vielleicht an einem Tatort oder auf einer Pressekonferenz?
»Nicht mehr! Ich bin ... äh ... freigestellt worden. Bei den Printmedien ist alles im Umbruch. Sie zahlen jetzt nur noch einen Hungerlohn pro Zeile. Deshalb habe ich auch umgesattelt auf die Mordkuhlen-Geschichte.« Er stellte den noch vollen Becher behutsam ab.
»Wie sind Sie darauf gekommen, über Mordkuhlen zu schreiben?«
Er starrte Pia einen Moment lang an. »Fragen Sie einen kreativen Menschen nie, woher er seine Ideen nimmt! Ideen liegen in der Luft.«
»Stammen Sie aus der Gegend?«
»Nicht direkt. Ich komme aus Kiel.«
»Was wollten Sie bei Ihrem Besuch auf Mordkuhlen herausfinden?«
»Ich rede eigentlich nicht gern darüber.« Ebel lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Warum nicht?« Es war offensichtlich, dass er darauf brannte, davon zu erzählen.
»Das Buch ist noch nicht fertig. Aber die Idee ist genial. Es wird der Knaller! Ich habe verständlicherweise die Befürchtung, dass mir da jemand zuvorkommen und meine Idee klauen könnte.«
»Das haben wir gewiss nicht vor«, sagte Broders trocken.
»Okay. Ich will Sie ja nicht an Ihrer Arbeit hindern. Immerhin ist dort ein Mensch ums Leben gekommen.«
»Also, worüber schreiben Sie genau?«, fragte Pia ungeduldig.
»Über Mordkuhlen vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren. Als es noch niemand ›Mordkuhlen‹ nannte ... Das kam ja erst später. Ich schreibe über die dramatische und grausame Auslöschung einer ganzen Familie! Und über einen Mörder, der sich selbst gerichtet hat. Aufgrund des Mordes hat das Thema unglaublich an Brisanz gewonnen. Wenn mein Roman davon noch profitieren soll, muss ich mich jetzt wirklich beeilen.«
»Müssen Sie das?« Pia konnte ihr Missfallen kaum verbergen.
Broders warf ihr einen warnenden Blick zu: »Sie schreiben also über den Mordfall Bolt. Was wird es denn? Ein Roman? Ein Sachbuch? Ein Theaterstück?«
»Theater? Das wäre es. Den Fall als neuzeitliches Drama auf die Bühne bringen ... Nur, verdienen kann man damit nichts. Aber vielleicht mit einem Film ... Ich muss mal meinen Agenten anrufen, wie es mit den Filmrechten aussieht.«
»Um welchen Verlag handelt es sich?«
»Ich habe mich noch nicht für einen bestimmten Verlag entschieden.«
»Herr Ebel, Sie schreiben an einem Buch über die Ermordung der Familie Bolt vor ungefähr einem Vierteljahrhundert und sind zu diesem Zweck an den ehemaligen Tatort gefahren. Das ist doch richtig? Was passierte, als sie dort waren?«
Jesko Ebel sah Pia irritiert an. »Wie – ›passierte‹? Ich hab zuerst kurz mit dem Mann gesprochen, der zurzeit dort wohnt. Klaasen hieß er. Ich habe ihm das Projekt vorgestellt und gefragt, ob ich mich umschauen darf. Doch er war nicht sehr hilfsbereit.«
»Was wollten Sie denn genau herausfinden?«
»Herausfinden, herausfinden! Was dort passiert ist, ist ja bekannt. Aber ich wollte die Atmosphäre des Hauses spüren. Die Schwingungen auffangen. Bilder sammeln, Gerüche und Geräusche.« Er sah zwischen Pia und Broders hin und her. »Das verstehen Sie wohl nicht.«
»Was wir verstehen und was nicht, lassen Sie besser unsere Sorge sein«, sagte Pia. »Schildern Sie uns den Ablauf Ihres Besuchs auf Mordkuhlen. Wen haben Sie alles angetroffen?«
»Pfh. Dieser Klaasen wollte mich nicht ins Haus lassen. Da bin ich draußen rumgelatscht und hab ein paar Fotos gemacht. Der Typ ist dann mit seinem Pick-up weggefahren. Kurze Zeit später kam eine Frau aus dem Haus und hat mich hereingebeten.«
»Wer war das?«
»Ich glaube, sie war es. Ihr Mordopfer. So um die neunzehn, zwanzig, vielleicht aber auch jünger. Langes schwarzes Haar, ziemlich öko. Sagte, sie wohne erst seit ein paar Wochen auf Mordkuhlen.«
»Hat sie sich nicht vorgestellt?«
Ebel zog ein Notizbuch hervor. Er blätterte ausgiebig, wobei er immer wieder den Finger mit der Zunge befeuchtete. »Ah, hier: Milena Ingwers. Sie ist das Opfer, oder? Nettes Mädchen. Hat uns Tee gekocht und mir ein bisschen was über Mordkuhlen erzählt. Dass die Nachbarn es für einen Schandfleck halten, zum Beispiel.«
»Hat sie noch mehr gesagt?«
Er schob die weiche Unterlippe vor. »Nichts Weltbewegendes. IQ wie die Außentemperatur. Entschuldigung. Sie ist ja tot. Und über die Familie Bolt hat sie mir auch nichts Neues erzählen können. Sie wusste nicht mal,
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