Ostseefluch
lange schon? »Ich denke viel mehr an dich, als gut für mich ist, Judith! Immerzu nehme ich Rücksicht. Aber in diesem Fall ging es nicht anders. Ich muss angeben, wo ich an dem Tag, an dem es passiert ist, war.«
»Was soll das schon wert sein? Die würde doch alles für dich bezeugen!«
»Im Gegensatz zu dir, nicht wahr?«
»Ich bin nur Gott, unserem Herrn, gegenüber Rechenschaft schuldig. Sonst keinem. Nicht einmal der Polizei.«
Wie er es hasste, wenn sie so redete! »Wo warst du überhaupt, wenn ich fragen darf?«
»Ich habe die Hunde trainiert. Ich war mit ihnen am Hundestrand. Weil es so heiß war. Sie sollten sich nach der Arbeit abkühlen können.«
»Da hast du ja Glück. Den Sand vom Strandparkplatz kann man bestimmt im Reifenprofil nachweisen. Nur wird nicht genau zu klären sein, wann er da hineingeraten ist. Oder hat dich da oben etwa jemand gesehen?« Er machte Anstalten, das Tor zu öffnen. Dabei merkte er, wie Judith scharf die Luft einzog. »Was hast du?« Sie war ganz rot im Gesicht.
»Es ist schrecklich heiß. Kommst du mit ins Haus? Mir ist nicht gut.«
Das Tor schwang auf. Was sollte er tun? Er konnte kaum riskieren, dass sie ohnmächtig wurde, umfiel und sich den Schädel einschlug. Wie Milena. »Ich hol noch eben mein Navi aus dem Landy, dann komm ich mit ins Haus«, sagte er.
»Nein!« Sie fasste ihn am Oberarm. Der Griff ihrer kräftigen, rauen Finger tat weh. Er wollte sie schon abschütteln, als ihm ein Geruch in die Nase stieg, den er vorher schon ganz schwach wahrgenommen hatte. Was war denn das? Er schluckte. »Riechst du das, Judith?«
»Rudolf, komm jetzt mit!«, drängte sie.
»Was ist denn ...« Eine Ahnung stieg in ihm hoch. Er sah seine Frau an, dann den Land Rover, der im Halbdunkel stand. Was hatte sie getan? Er ging am Fahrzeug entlang und versuchte, durch die Scheiben etwas zu erkennen. Dann riss er die Hecktür auf. »Das glaube ich nicht, Judith!«, sagte er entsetzt.
»Ich hab’s vergessen. Das war an dem Tag, als das mit Milena passiert ist.«
»Unsinn. Als du es vergessen hast, konntest du noch gar nicht wissen, dass Milena tot ist.« Sein Tonfall war ätzend. »Das ist nur eine von deinen verdammten Ausreden!«
Sie starrte ihn an. Ihr Gesicht spiegelte unterschiedliche Emotionen: Unsicherheit, Entsetzen, aber auch Überlegenheit? »Ich kümmere mich darum«, sagte sie mit fester Stimme.
»Das muss weg.« Er musterte seine Frau, die er doch zu kennen glaubte, als sähe er sie zum ersten Mal. »Ich weiß nicht, was in deinem Kopf vor sich geht, Judith. Kümmere dich darum! Zeitnah.« Rudolf warf die Tür des Geländewagens zu und verließ die Garage, ohne Judith dabei aus den Augen zu lassen. Ihre großen Hände waren zu Fäusten geballt. Er fühlte, wie ihm Schweißtropfen den Rücken hinunterliefen. Er brauchte Luft. Eine Abkühlung. Regen, Hagel, Schnee. Und Verstand darf es auch noch regnen, dachte er zynisch. Für meine Frau!
10. Kapitel
A ls Pia zurück zum Wagen kam, steckte Broders gerade sein Telefon weg. »Ich habe eben mit Maren Rosinski gesprochen. Sie erwartet uns.«
»Weißt du, wo wir hinmüssen?«
»Ich weise dir den Weg.«
Auf der Fahrt durch die Felder berichtete Pia, wen sie am Tor von Mordkuhlen getroffen hatte.
»Du meinst, die veranstalten heute Abend eine Séance?«, fragte Broders ungläubig.
»Hörte sich so an, ja.«
»Da wäre ich gern dabei.«
»Du? Als weltgrößter Skeptiker überhaupt? Was versprichst du dir davon?«
»Mich interessiert die Manipulation, die damit einhergeht. Wie der Typ es anstellt, dass aufgeklärte Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts sich auf diesen Hokuspokus einlassen.«
»Offensichtlich sind die meisten von uns recht schnell bereit, an irgendwelche übersinnlichen Phänomene zu glauben, wenn sie sich davon eine Lösung ihrer Probleme erhoffen können. Bei vielen reicht sogar die Aussicht auf ein bisschen Klatsch und Grusel. Denk nur an das Gerede über den Fluch.«
Maren Rosinski wohnte in einem alten Hofgebäude unter Reet, das sich malerisch in die sommerliche Landschaft fügte. Das Fachwerk sah aus, als wäre es gut in Schuss, die Sprossenfenster mit den weißen Rahmen glänzten in der Abendsonne.
Sie hielten auf einem gekiesten Vorplatz. Hinter einer akkurat gestutzten Hecke standen Gartenmöbel aus Teakholz unter einem Apfelbaum. Eine Frau um die vierzig hatte sich aus einem Deckchair erhoben, als sie auf den Hofplatz gefahren waren. Sie war von sportlicher, eher kräftigerer
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