Ostseefluch
zu können. Jeder hatte davon gewusst. Es war ein Erbstück von seinem Vater, der es wiederum sonst woher hatte. Wie erschießt man sich selbst mit einem Gewehr?, überlegte Jesko. Ob Bolt vorher noch nach seinem dritten Kind gesucht hatte? Oder hatte er es verschonen wollen, nachdem seine Wut verraucht war? Die fast leere Flasche Korn auf dem Küchentisch erzählte davon, dass er noch lange in der Küche gesessen und getrunken haben musste, nachdem er seine Frau erstochen hatte. Es waren blutige Fingerabdrücke an der Flasche gefunden worden. Karl-Heinz Bolts Fingerabdrücke, Anita Bolts Blutgruppe. Ein Indiz, das den Richter wohl endgültig von der Schuld Bolts überzeugt hatte. »Erweiterter Selbstmord« war die zynische Bezeichnung für die Tat. Ein Zeitungsbericht wies darauf hin, dass angeblich an der Kleidung der Mädchen und den Plastiktüten, mit denen sie erstickt worden waren, keine Blutspuren sichergestellt werden konnten. Hatte Bolt seine Töchter vielleicht vor der Ehefrau ermordet? Aber wo lag dann das Motiv?
Jesko Ebel hatte gedacht, dass er über die lange zurückliegenden Ereignisse nüchtern und sachlich würde schreiben können. Das Verbrechen, über das er berichten wollte, war grausam und verstörend, aber letzten Endes: Was ging es ihn an? Und die Schilderungen späterer Mieter, dass es in dem Haus spuken sollte, waren genau genommen lächerlich. Obwohl, niemand hatte es länger als ein paar Monate dort ausgehalten. Die jetzigen Bewohner ausgenommen. Die früheren Mieter hatten nachts Geräusche auf der Treppe gehört. So, als trüge jemand etwas Schweres herunter. Ach, ja? All das stank doch geradezu nach Hysterie und Einbildung. Und war noch dazu einfach zu erklären vor dem Hintergrund, dass die vermeintlichen Spuk-Geplagten die Geschichte des Hauses kannten. Ein klagender Schrei in der Nacht konnte leicht auf balgende Katzen im Garten zurückgeführt werden. Er, Jesko, war selbst schon darauf hereingefallen. Sogar die Feuchtigkeit im Keller war nichts Besonderes. Schließlich war das ganze Haus feucht. Es stand in einer Senke ... Nur ein Idiot baute da sein Haus. Das Wasser musste ja in den Keller laufen und von unten hochdrücken. Dass die salzhaltigen Flecken und Ränder auf dem Kellerboden einmal die Form von drei liegenden Körpern gehabt hatten, war reiner Zufall. Es gab sogar ein Foto, das Jesko im Archiv einer regionalen Zeitung gefunden hatte: Die Sache roch geradezu nach Manipulation!
Warum war er dann so nervös, während er hier saß und die Geschichte niederschrieb? Es musste am Auftauchen der Kripo liegen. Was wollten die Polizeibeamten von ihm? Sie konnten ihn unmöglich mit dem Mord an diesem Mädchen in Verbindung bringen. Das er wirklich kaum gekannt hatte. Nur einmal gesehen ... und das hatte ihm gereicht. Dass so eine leben durfte und seine Nina ... Aber der Tod dieser Milena Ingwers, so pervers das auch war, konnte ihm nützlich sein. Zumindest, wenn seine Story fertig war, bevor der Mord wieder in Vergessenheit geriet. Jesko schüttelte die kalten, verkrampften Hände aus und begann entschlossen zu tippen.
Was für den einen ein Fluch, konnte für den anderen doch auch ein Segen sein ...
Pia steuerte als Erstes auf das Buffet zu. Sie hatte am Mittag nur ein Brötchen gegessen und seitdem ein paar Löffel von Felix’ Abendbrei. Sie belud sich einen Teller mit Salat und Antipasti.
»Pia!«
Sie fuhr herum und sah sich Lars Kuhn gegenüber. »Oh. Was machst du denn hier?«, platzte sie nicht sehr einfallsreich heraus.
»Ich bin ein Bekannter von Tom.« Er musterte sie. »Wir hatten mal wegen eines Hauses miteinander zu tun, das seine Firma für mich saniert hat.«
Lars steckte anscheinend immer in irgendwelchen Bauprojekten. Als sie ihn im letzten Herbst zum ersten Mal gesehen hatte, war er von Kopf bis Fuß mit grauem Baustaub bedeckt gewesen. Heute steckte er in Bermudashorts und einem T-Shirt mit Heavy-Metal-Aufdruck. Er sah so frisch und gebräunt aus, als hätte er die letzten Wochen im Freien verbracht.
»Ich bin Toms Schwester.«
»Stimmt! Er hat mal was von einer Zwillingsschwester erzählt.« Lars versuchte gar nicht erst, sein Erstaunen zu verbergen.
»Das ist die andere. Aber Nele ist heute nicht hier.« Pia stopfte sich ein paar eingelegte Champignons in den Mund, um nicht noch mehr zu sagen. Etwas Unfreundliches vielleicht.
»Und warum heißt du Korittki, während er ...« Lars stockte. Vielleicht weil ihm aufging, dass er sich auf unsicheres
Weitere Kostenlose Bücher