Ostseefluch
sie direkt aus dem Bett oder eben vom Friseur kam. Die Meinung der Dorfbewohner saß tief: Anständige Frauen hatten »flotte« Kurzhaarschnitte oder banden ihr Haar zusammen. Insbesondere wenn sie älter als dreißig waren.
Es war erst kurz vor sieben. Sollte sie hier oben auf Rudolf warten oder lieber vorn am Wasser? Sie wollte nicht wie bestellt und nicht abgeholt am Wagen stehen. Wahrscheinlich wartete Rudolf unten am Wasser auf sie und sah dabei immer wieder demonstrativ auf seine Armbanduhr. In diesem Fall musste er allerdings zu Fuß hergekommen sein. Oder mit dem Fahrrad.
Sie entschied sich für den Trampelpfad, der links am Leuchtturmgelände vorbeiführte. Die schmalen Absätze ihrer Sandalen waren für sandigen Untergrund denkbar schlecht geeignet. Marens Fußgelenke zitterten, um die Unebenheiten auszugleichen. Und unten, auf den großen Steinen, würde sie sich die Schuhe ruinieren. Hoffentlich hatte Rudolf einen guten Grund für diesen Treffpunkt!
Maren sah Plastikflaschen, die gegen den Zaun geweht worden waren. Da lag ein verlorener Badeschuh und weiter vorn, neben dem Wendeplatz im hohen Gras, ein Stück rostigen Drahtes. Die Touris ließen ihren Müll zurück – und Geld in den Kassen der Hoteliers, Restaurant- und Imbissbudenbetreiber. Maren dachte an Mordkuhlen und ihre Pläne ... Sie musste verkaufen! Dieses Haus hatte bisher noch keiner Menschenseele Glück gebracht.
Nicht, dass sie an den lächerlichen Fluch glaubte, der auf Mordkuhlen lasten sollte. Sie war ein durch und durch vernünftiger Mensch. Und sie brauchte das Geld. Das Gerede über einen Fluch war doch nur entstanden, weil der Tod der Familie Bolt die Leute erschreckt hatte und an ihren eigenen, höchst fragilen Lebensgebäuden rüttelte. Wenn man sich einredete, dass der böse Fluch eines Seemannes dahintersteckte, gab man dem sinnlosen Morden einen Grund und einen Platz, wo man es ruhigen Gewissens einordnen konnte. Dann betrafen die Todesfälle einen selbst viel weniger.
Obwohl ... Ihre eigene Tante sollte auch als Kind verflucht worden sein. Von einer Zigeunerin. Das sagte man heute nicht mehr. Es hieß »Roma« oder »Sinti«. Ihre Tante hatte auf dem Hof ihrer Eltern gespielt, dort, wo Maren selbst jetzt lebte, als diese fremde Frau vorbeigekommen war. Sie hatte Pilze verkaufen und bei der Gelegenheit dem Kind, ihrer Tante, aus der Hand lesen wollen. Als die Kleine ängstlich die Hände hinter dem Rücken versteckt hatte, war die Frau wütend geworden und hatte ihr ein Unglück prophezeit und gesagt, sie solle auf ihre Augen aufpassen ... Warum eigentlich gerade auf die Augen? Aber wie dem auch sei – Marens Tante war angeblich ein halbes Jahr nach diesem Vorfall an einer Hirnhautentzündung gestorben. Ihre Mutter hatte Maren mal erzählt, dass sie ihre Schwester, als die schon sehr krank gewesen war, vor Schmerzen hatte schreien hören. »Meine Augen tun so weh!«, sollte sie immer wieder gerufen haben.
Sie blickte zum Leuchtturm hinüber. Das Gelände hinter dem Zaun lag schon im Schatten. Die Tage wurden wieder kürzer. Je weiter sie ging, desto deutlicher hörte sie das Rauschen des Wassers. Der Staberhuk war die südöstlichste Spitze Fehmarns. Hier wehte fast immer ein frischer Wind. Trotz der noch annehmbaren Temperaturen kroch Maren mit einem Mal eine Gänsehaut die Arme hinauf. Maren zögerte einen Moment, bevor sie den Pfad zwischen den Bäumen hindurch hinunter zum Ufer einschlug. Sie war ganz allein. Wo Rudolf nur blieb? Es war schon fünf Minuten nach sieben. Ich, die Möwen und das Meer, dachte Maren missmutig. Nein, ich, die Möwen, das Meer und ein einsamer Spaziergänger ... Es war nicht Rudolf, das erkannte sie an seiner Haltung. Auf weite Entfernungen waren ihre Augen noch gut. Der Mann stieg langsam über die Steine, hielt den Kopf gesenkt. Er trug eine dunkle Hose, Stiefel und einen Kapuzenpullover. Die Kapuze hatte er gegen den Wind über den Kopf gezogen, die Hände in den Taschen versenkt.
Was er wohl hier wollte? Einen Liebesbrief lesen? Seinen Frust in den Wind schreien? Den Kopf freibekommen? Sie wich ein Stück zurück in den Sichtschutz der Bäume. Noch fünf Minuten, länger würde sie Rudolf nicht geben. Was für eine bescheuerte Idee: eine SMS mit einer Uhrzeit und einem Treffpunkt. Und wenn die Nachricht gar nicht von Rudolf gekommen war? Doch er rief immer mit unterdrückter Nummer an. So war auch die SMS angekommen. Bisher hatte Maren das nur unhöflich bis neurotisch von ihm
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