Ostseefluch
gefunden. Jetzt dachte sie, dass es auch verwirrend sein konnte.
Nein, sie wollte nicht länger warten. Seit der Geschichte mit den Pfauen predigte Rudolf ihr, abends nicht mehr in den Garten zu gehen und nicht mehr ohne Begleitung in der Gegend herumzulaufen. Und nun stand sie hier.
Das Wasser sah rau und kalt aus, wie es gegen die großen Steine klatschte. Die tief hängende Wolkendecke täuschte eine verfrühte Dämmerung vor. Unter den dicht stehenden Bäumen am Ufer war es fast schon dunkel. Was wollte sie hier? Das war doch lächerlich. Sie drehte sich um und ging, etwas eiliger als eigentlich nötig, den ansteigenden Pfad zurück in Richtung ihres Autos. Wenn niemand sie hier sah, wäre es fast so, als wäre sie gar nicht auf die SMS hereingefallen. Sie würde nach Hause fahren, sich einen schönen Valdepenas einschenken und den Vorfall einfach vergessen.
Da hörte sie es. Trotz des Rauschens des Meeres hatte der Wind ein Geräusch zu ihr getragen, das hier nicht hingehörte. Ein Schnaufen oder Hüsteln? War der Mann, den sie eben noch am Ufer gesehen hatte, jetzt hinter ihr? Sie sah sich um, konnte zwischen den Bäumen jedoch niemanden sehen.
Was sie dann tat, war Instinkt, keine bewusste Entscheidung. Maren Rosinski hob einen Fuß nach dem anderen und streifte sich die Sandalen von den Füßen. Sie spürte den kühlen, lehmigen Boden unter ihren Fußsohlen, drehte sich um und rannte los. Am Leuchtturm vorbei, immer am Zaun entlang, in Richtung Auto. Der enge Rock rutschte ihr fast bis zur Hüfte hoch, und der Wind pfiff ihr um die Ohren. Sie wagte nicht, sich umzudrehen, um sich zu vergewissern, ob da überhaupt jemand hinter ihr war. Unkontrollierbare Angst saß ihr im Nacken, ließ ihre Beine wie von selbst laufen und machte ihre Füße taub für die spitzen Steine und scharfen Gräser.
Hinter der Ecke stand ihr Auto. Die Rettung. Hatte sie abgeschlossen? Sie schloss immer ab. Wo war der Schlüssel? In ihrer Rocktasche. Wenn er nicht beim Laufen herausgefallen war. Maren tastete danach und warf nun doch einen hastigen Blick über die Schulter zurück. Er folgte ihr: ein dunkel gekleideter Mann. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen. Es war konturenlos. Er hatte keines!
Ihr Körper gehorchte ihr nicht länger. Die Panik lähmte sie. Los, lauf! Er kam näher. Maren glaubte, ihn schon keuchen zu hören. Lauf endlich! Sie riss sich von seinem Anblick los und rannte weiter in Richtung Auto. Obwohl sie das Gefühl hatte, über den Erdboden zu fliegen, hämmerte ihr Verstand ihr mit jedem Schritt ein, dass es aussichtslos war. Bis sie aufgeschlossen hatte und im sicheren Innenraum saß, würde er sie eingeholt haben. Aber wenn es ihr doch gelang, würde sie nur noch starten müssen ... Ja, der Wagen war ihre einzige Chance. Lauf!
Maren meinte, die Vibration seiner Schritte unter ihren Füßen zu spüren. Ihr Nacken kribbelte, und in ihren Ohren dröhnte es. Mit den Augen scannte sie die Umgebung nach einem Ausweg. Da lag der Draht, den sie schon auf dem Hinweg gesehen hatte, im hohen Gras. Rostig, in sich verschlungen, aber ohne Zweifel stabil. Doch wenn sie darübersprang, wäre ihr Verfolger gewarnt. Sie konnte sowieso nicht mehr springen – sie konnte ja kaum noch die Füße heben. Maren nahm mit den Augen Maß und lief, so gut es ging, über den Draht hinweg. Quer über den Parkplatz. Sie hatte den Schlüsselbund schon in der Hand. In dem Moment, in dem sie mit fliegenden Fingern den Türöffner betätigte, hörte sie einen unterdrückten Aufschrei. Sie riss am Türgriff, stürzte sich ins Auto. Als sie mit einem beruhigenden »Klack« die Türen von innen verriegelte, schluchzte sie erleichtert auf und startete den Motor. Die Reifen drehten knirschend durch, weil sie etwas zu heftig aufs Gaspedal trat. Es gab einen Ruck, und sie schoss vorwärts. Erst im letzten Moment riss sie das Lenkrad herum, um nicht im Graben zu landen.
Im Rückspiegel sah sie, dass ihr Verfolger sich aufgerappelt hatte. Eine schwarze Gestalt, die zurück in Richtung Leuchtturm lief. Bis die Polizei hier wäre, wäre er verschwunden.
Gerettet von einem Stück Draht, dachte Maren, als sie wieder Asphalt unter den Reifen hatte. Sie gab Gas. Siebzig, neunzig, hundert Stundenkilometer. Viel zu schnell für die schmale Straße. Ein hysterisches Kichern stieg in ihr auf. Nur ein Stück Draht. Was war denn daran so witzig? Es war nur ihre übersteigerte Reaktion auf den Schrecken. Sie hatte einen Schock erlitten.
25. Kapitel
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