Ostseefluch
Maren Rosinski alle möglichen Szenarien in ihrem Kopf durch. Rudolf wollte Schluss machen. In letzter Zeit hatte er sich ihr gegenüber ohnehin seltsam benommen. Er hatte sie seltener besucht als sonst. Im Bett war er ihr einmal fast abwesend vorgekommen. Sie hatte sich eingeredet, dass es an den laufenden Ermittlungen lag, dass Milenas Tod und auch Judiths Benehmen in den letzten Tagen einfach einen Großteil seiner Energie absorbiert hatten.
Judith ist in dieser Beziehung wie ein schwarzes Loch, dachte Maren. Ist sie immer gewesen. Maren gefiel der Vergleich. Man schaute in Judiths Gesicht, in ihre Augen ... und schauderte angesichts der Leere darin.
Maren erinnerte sich, wie sie einmal als Schülerin bei Judith zu Hause gewesen war – um was zu tun eigentlich? Richtig. Sie hatte etwas in der Schule versäumt und wollte sich Unterlagen bei Judith abholen. Wenn man in einem Dorf wohnte, meinten die Lehrer, man müsse automatisch miteinander befreundet sein. Im Haus der Hillmers war es eisig kalt gewesen. Und still. Judith hatte geflüstert. Maren hatte damals angenommen, Judith müsse erfreut sein, sie, Klassenstar und Ringreitturnier-Königin, bei sich zu Hause zu sehen. Aber das Gegenteil schien der Fall gewesen zu sein. Judith hatte sie so schnell wie möglich wieder loswerden wollen. Die Begründung war gewesen, dass Judiths Vater Mittagsschlaf halte und nicht gestört werden solle. So richtig mit Hosen aus, auf der Couch im Wohnzimmer, pflegte er mittags zu ruhen, hieß es im Dorf. Da wusste man ja immer alles voneinander. Maren war es eigentlich ganz recht gewesen, so schnell wieder hinauskomplimentiert zu werden. Sie hatte Angst vor dem alten Hillmer gehabt. Kein Wunder, dass Judith so verhuscht war! Dabei hätte sie richtig hübsch aussehen können – damals ...
Nein, Rudolf konnte Judith nicht ihr vorziehen! Niemals. Er hatte selbst immer wieder gesagt, dass ihn ihre Kälte abstieß und ihre Bigotterie in den Wahnsinn trieb. Und Milena konnte er nun auch nicht länger als Grund vorschützen, an seiner Ehe festzuhalten. Er würde Farbe bekennen müssen. Rudolf ... Bestimmt wollte er ihr heute sagen, dass er sich von seiner Frau trennen würde. Und sie würde Mordkuhlen endlich an Christian verscherbeln, sodass sich Rudolf von Judith freikaufen konnte.
Oder gab es Neuigkeiten über den Mord? Irgendwelche Ermittlungsergebnisse, die er ihr unbedingt unter vier Augen mitteilen musste? Brauchte er gar ihre Hilfe? Sie rief beim Fahren die SMS noch einmal ab. Er musste in großer Eile gewesen sein, als er sie geschrieben hatte. Oder sonst wie unter Stress gestanden haben. Dass er auf Großschreibung verzichtete – er, der sogar einen neu erschienenen Duden überprüfte und seine Verbesserungen an den Verlag schickte. Wollte sie wirklich mit so einem Mann zusammen sein? Mit ihm leben, nicht nur mit ihm ins Bett gehen? Sie würde sich gut überlegen müssen, was sie ihm heute sagte. Nur nichts überstürzen! Immerhin wartete sie seit zwei Jahren auf ihn, da würden ihm ein paar Tage Bedenkzeit auch mal ganz guttun.
Maren fuhr zügig die schmale Straße hinter Staberdorf hinunter, die zu beiden Seiten von Büschen und Bäumen flankiert wurde, und passierte dann die Abfahrt zum Gut Staberhof. Kurz darauf tauchte vor ihr, unterhalb eines abgeernteten Feldes, die Ostsee auf. Maren sah zwei weiße Segelschiffe mit geblähten Segeln, dahinter ein Containerschiff. Sie selbst war nie gern gesegelt, obwohl das auf Fehmarn dazugehörte. Segeln, Reiten oder wenigstens Surfen. Trotzdem war sie hier glücklich aufgewachsen. Sie hätte sich auf den zahllosen Reiter- oder den berüchtigten Hektarbällen einen Mann aus einer der Bauerndynastien suchen und ihn heiraten sollen. Dann hätte sie jetzt bestimmt einen Ferienhof oder wenigstens ein Bauerncafé. Das war ihre Bestimmung gewesen. Stattdessen fuhr sie zu einem abendlichen Treffen mit einem verheirateten Mann am Arsch der Welt – am Staberhuk.
Vor sich sah sie nun den gedrungenen Leuchtturm aus den Baumkronen ragen.
Maren fuhr bis ans Tor des Leuchtturmgeländes, setzte rückwärts und stellte den Wagen auf dem Wendeplatz ab. Sie war allein hier. Einem Schild zufolge, das vor dem Zaun auf dem Boden lag, durfte man hier nicht einmal parken, aber das war ihr egal. Sie stieg aus und atmete tief durch. Weshalb war sie so nervös? Ein Windstoß wehte ihr das penetrant nach Friseur-Chemie riechende Haar ins Gesicht. Sie trug es selten offen. Tagsüber eigentlich nur, wenn
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