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Ostseeliebe

Ostseeliebe

Titel: Ostseeliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Jaskulla
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Nacken und Oberarme freilegte, die denen eines Preisboxers glichen. Ungerührt breitete sie die Papiere aus. Die anderen drängten näher, selbst Anne vergaß die ihr eigene Zurückhaltung und schob sich an den Freunden vorbei. Vor ihnen lag ein mächtiges Konvolut aus dem Ladesteinschen Nachlaß: die Dokumentation der Theaterstücke, Notizen zu Proben, die offenbar im Freien, hier oben im Föhrenwald stattgefunden hatten, Kostümskizzen, Bühnenbildentwürfe und Fotos.
    »Nein!« entfuhr es Anne. Sie griff nach ein paar Fotos.
    Diese waren gelblich verfärbt in den vielen Jahren, die sie unbeachtet in Kisten und Schachteln verbracht hatten, aber was darauf abgebildet war, ließ sich eindeutig erkennen: Sie zeigten den Dresdner Volksschauspieler Karl Kniepert-Schlepegrell, der trotz seines verzwickten Nachnamens damals ein bekannter Bühnenheld war, in einer lachhaften Kostümierung: Schlepegrell war beinahe nackt, wenn man von einer wenig kleidsamen Schärpe absah, die sich üppig, aber vergeblich um seine rundlichen Hüften schlang. Das überlange
Ende der Schärpe hielt Schlepegrell über den linken Arm gelegt, während er mit dem rechten dramatisch gestikulierte. Und von der Schärpe dachte Julia sofort, daß sie blau sein müßte...
    »Nee! Kinnings!« rief plötzlich die alte Lisa, Weber zur Seite schiebend, und stützte ihre mächtige Linke auf den Tisch. »Das ist doch der Engel! Unser Engel!«
    »Kiek mal eener an! Det Pummelchen aus der Dorfkirche!«
    Und wirklich: Der Schauspieler, der offenbar bei Proben für Ladesteins Stück von den vier Winden abgelichtet worden war, trat ganz eindeutig als Engel aus der Dorfkirche auf. Aber auch als Boreas. Oder der Boreas war ein Engel? - Aber nein, dagegen sprach die kokette Kostümierung, die bei einem erwachsenen Mann dann doch etwas eindeutig Frivoles hatte. Auf anderen Fotos trug der Schauspieler sogar einen Bockshuf! Keine Frage, Ladestein hatte aus dem geliebten Engel in der Kirche zu Stiftsdorf respektlos einen erotischen Dämon gemacht, einen Cupido, einen nur scheinbar harmlosen Putto, der wenige Szenen später lustvoll unter der Auspeitschung der Bäume stöhnen würde.
    »Schaut mal, hier!«
    Die Maushaarige hatte vergilbte Zeitungsartikel hervorgezogen. Darin war von ungeheuerlichen Skandalen die Rede, in Leserbriefen empörten sich Freundinnen des guten Geschmacks und Zirkel pensionierter Lehrerinnen, die kleine Insel schien als Ausflugsziel für Sommerfrischler beim besten Willen nicht mehr geeignet. Offenbar hatte es tatsächlich eine Freiluftaufführung der »Genese der vier Winde« gegeben, und den völlig überrumpelten Premierengästen war ein Spektakel präsentiert worden, das den liebenswerten Engel, den Schutzpatron des Dorfes, als schlitzohrigen Hallodri gezeigt hatte. Dieselbe Zeitung berichtete ein paar Monate später, nun sei es endlich gelungen, einigen
unerwünschten Elementen auf der Insel klarzumachen, daß sie hier nicht mehr wohlgelitten seien.
    Ladestein, dessen unselige Komödienidee sicher einer Bierlaune, vielleicht aber auch der schieren Lust an der Provokation entsprungen war, wurde gezwungen, die Insel zu verlassen. Keiner der Fischer versorgte ihn mehr, der Bäcker verkaufte ihm kein Brot, und der Pastor, bis dahin einer seiner wenigen ständigen Gesprächspartner, erwiderte seinen Gruß nicht mehr, wie die Inselzeitung nicht ohne Genugtuung zu berichten wußte. Auch die Nachhilfeschüler blieben aus. Und die einstigen Mitstreiter, die mit Ladestein für eine Belebung der Badesaison durch Tanz und Theater hatten sorgen wollen, zogen sich zurück, allen voran jener Dresdner Volksschauspieler, der nach der aufsehenerregenden Premiere unverzüglich abgereist war, wie es hieß »mit einer blonden Perücke«, und eins ums andere Mal ausrufend, daß er von der Liebe und der Gunst seines Publikums lebe und von sonst gar nichts. Die kompletten Abendeinnahmen hatte er trotzdem mitgenommen. Das heißt: Ladestein war pleite. Er hatte sogar erhebliche Schulden, denn für den Abend der Aufführung, die nun in ungewollter Art »einmalig« bleiben würde, hatte Ladestein, der dem Ostseeklima mißtraute, eigens ein Zelt anfertigen und auf die Insel schaffen lassen. Fünf ausgewachsene Männer waren drei Tage lang damit beschäftigt gewesen, es aufzubauen. Kurzum: Wie schon zuvor in Berlin, so waren auch hier die Gläubiger hinter Ladestein her; er reiste ab, mit offenbar unbekanntem Ziel. Den Dorfengel, den Boreas aber, den konnte kein

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