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Ostseeliebe

Ostseeliebe

Titel: Ostseeliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Jaskulla
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Restaurant am Ort - gegrillten Dorsch bestellen. Sie sorgen also dafür, daß das Niveau der Küchen einigermaßen gehalten wird. Aber es gibt eben auch die anderen. Die sind es, die uns Sorgen machen.«
    Sie schwieg wieder. Draußen schrillte eine Fahrradklingel. In der Stadt hätte man die kaum wahrgenommen. Hier war es ein alarmierendes Signal. Frau Bult warf einen Blick hinaus. Julia rührte in ihrer Tasse, anders als Frau Bult aus Verlegenheit. Sollte sie jetzt eine Frage stellen? Sollte sie auf
andere Weise Interesse signalisieren? Doch sie spürte, daß das nicht nötig war. Frau Bult brauchte Pausen im Gespräch. Sie würde weitersprechen, wenn es an der Zeit wäre, so machten es alle hier. Julia merkte, daß sie die Stille hören konnte - und daß sie diese Stille als angenehm empfand, ganz im Gegensatz zu früher. Da war Stille ein Zeichen der Hilflosigkeit, es zeigte, daß dem einen oder anderen nichts mehr einfiel, daß man sich nichts zu sagen hatte oder sich nicht füreinander interessierte. Schweigen bedeutete isolieren, verstummen hieß strafen. Die schlimmste aller Strafen war für Julia das »beredte Schweigen« ihrer Mutter gewesen, unter dem sie gelitten hatte. Das Schweigen war die Stufe vor der Migräne. Wenn Mutter dramatisch verstummte, dann war immer noch Zeit, das Unheil, ein mitunter mehrtägiges Sich-Zurückziehen und Schweigen, zu verhindern, aber alle Anstrengung war dazu nötig gewesen, alle Anstrengung, zu der eine Zehnjährige fähig war. Dann zermarterte Julia sich das Gehirn, womit sie ihre Mutter ablenken, unterhalten, wieder gutstimmen könnte, und wenn es ihr gelang, eine »lustige Geschichte« aus der Schule oder der Nachbarschaft zum besten zu geben, dann zeigte ihre Mutter durch die Andeutung eines Lächelns, daß sie verstanden hatte. Selbstverständlich habe ich das Manöver durchschaut, deutete das Lächeln an, aber sie machte mit, weil sie eine gute Mutter war. Und Julia fühlte sich erschöpft und sich selber fremd, denn sie fand die Schule nicht lustig, und die Geschichten aus der Nachbarschaft waren meist erfunden, nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit. So wurde ihr die Stille verdorben. Und nun saß sie hier, siebzehn Jahre später, und konnte das Schweigen mit einer wildfremden Frau gut ertragen, ja, sie stellte fest, daß sie es sogar genoß. Eingreifen war nicht nötig, nur Verharren, Dasein. Zuhören galt offenbar als eigenständiger Beitrag zum Gespräch. Wichtig wie die Zeit, die verstrich. Plötzlich
spürte Julia die Zeit. Nicht lastend, nicht drängend. »Zeit ist ein vorbeihuschender Hund. Wenn du ihn anschaust, bellt er kurz, dann ist er verschwunden.« Das hatte Ladestein geschrieben, es war ihr affektiert vorgekommen. Sie spürte einen Lufthauch: vielleicht zwei Minuten, vielleicht zwan zig. Auf dem Tisch standen nicht einmal Kekse. Nur die Teekanne auf dem Stövchen. Eine Porzellandose mit Kandiszucker. Ihrer beider Tassen. Zwei Servietten lagen da. Ihre Hände. Nachmittag schon. Anne Bult setzte sich noch ein bißchen aufrechter hin, räusperte sich.
    »Der Tourismus begann in den Zwanziger Jahren richtig zu florieren; damals gab es übrigens schon einen warnenden Artikel in der Berliner Zeitung, der forderte in einem launigen Ton, daß alle Liebhaber der Insel ihre Lage, zumindest aber ihren speziellen Reiz zu verschweigen hätten, um sie zu schützen. Natürlich nützte das nichts, die Leute kamen trotzdem. Die ersten Familien begannen, Fremdenzimmer einzurichten. Die wenigen Gasthöfe und Hotels, über deren mangelnden Komfort sich Ladestein und seine Berliner Freunde noch lustig gemacht hatten, wurden ansehnlicher und bequemer. Und der Besucherstrom schwoll an, wurde durch den Zweiten Weltkrieg nur kurz unterbrochen und nahm dann sofort neuen Aufschwung. Zu DDR-Zeiten ist hier nicht viel passiert, ein Ferienheim steht unten an den Dünen, es ist jetzt zu einer Appartmentanlage umgebaut. Nun ja, nach der Wende ging es hier richtig los. Die alten Besucher erinnerten sich an die Insel, neue, erholungsuchende Menschen kamen dazu. Und viele entdeckten die Künstler und Schriftsteller, die lange vor ihnen hier gewesen waren. Sie sind sozusagen die Bürgen für das Besondere.«
    Anne Bult rührte wieder in ihrer Tasse. Und schwieg. Julia überlegte kurz und respektlos, ob Frau Bult wohl das Gespräch dazu nutzte, an einem Prospekt weiterzutexten, den
sie längst im Kopf hatte. Oder ob die druckreifen, aber irgendwie unpersönlichen Sätze zu langem

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