Ostseeliebe
Der ruft sie nicht jeden Abend an. Der ruft eigentlich überhaupt nie an.«
Julia verstand nicht.
»Seit dreißig Jahren hat er nicht mehr angerufen.«
»Und seit dreißig Jahren wartet Marga Niemann auf seinen Anruf«, ergänzte Hilda.
»Und manchmal glaubt sie eben, daß das Telefon defekt
ist, und dann ruft sie da hinein, aber natürlich antwortet keiner. Es wird auch nie einer anrufen, aber das kann man ihr nicht begreiflich machen.«
Julia erschauerte. Seit dreißig Jahren! Deshalb die schwarzen Kleider und die altmodische Frisur! Marga Niemann hatte vor dreißig Jahren aufgehört. Aufgehört, sich zu verändern. Aufgehört, am Inselleben teilzuhaben; die anderen duldeten das. Sie war eine schattenhafte Existenz, ein Trollgesicht auf einem toten Körper. Den trug sie wie einen Sarkophag mit sich herum. Im Grunde, begriff Julia, war Marga Niemann tot. Gestorben an dem Tag, als der Seemann Leszek Mysliwski sie verlassen hatte mit dem Versprechen, sie jeden Tag um elf anzurufen. Oder gestorben vielleicht ein paar Wochen oder Monate später, als sie begriff, daß er nie anrufen würde, heute nicht, morgen nicht, zu ihrem Geburtstag nicht, und daß er es auch nie vorgehabt hatte, daß er womöglich in Stettin oder Danzig eine Frau und drei Kinder hatte, und selbst, wenn er lediglich allein in einer Bude irgendwo an der polnischen Ostseeküste hockte, so hatte er doch offenbar nie vorgehabt, sich bei ihr zu melden. Sie war gewesen für ihn. Vorbei. Ihr Gehirn hatte sich geweigert, das zu akzeptieren. Für sie war er nicht vorbei. Er war, er blieb.
»What a wicked game to play/To make me feel this way/ What a wicked thing to do/To let me dream of you/What a wicked thing to say/You never felt this way/What wicked thing to do/To make me dream of you...«
Die Wettersteinbar lag im Keller des Cafés, eine schmale Treppe führte hinunter, und herauf drangen parfümierte, rotstichige Musik, der Dunst von Alkohol und von zu vielen Menschen auf zu engem Raum, Stimmengewirr, Keyboard und elektronische Percussions - egal, dachte Julia,
ganz egal, Hauptsache, es hört nicht auf. Hauptsache, es hört überhaupt nie mehr auf. Dieses Dröhnen im Kopf. Dieses Schmeicheln und Trösten und Fordern der Musik.
»I watch your window/I shake so scared/Spying from my room with nervous unrest...«
Sie sah sich nach den anderen um. Die schwemmten sie, gutgelaunt und gestikulierend, in die Bar. Eine Art Vorhölle war das, ein niedriger, nur mäßig erleuchteter Raum, durchzogen von dicken Rauchschwaden. Alles in Rot und Schwarz. Alles voller Menschen. Die Gesichter um sie herum begannen zu glühen und mit dem Hintergrund zu verschwimmen, und sofort biß sie der Qualm in Augen und Kehle.
Eine erstaunlich kleine und erstaunlich pralle falsche Blondine schob sich an ihr vorbei. Die hatte genau jenen dramatisch glänzenden, pinkfarbenen Lippenstift großzügig über die Ränder ihres Mundes verteilt, den Jeanette, die Boshafte, »polnisch pink« zu nennen pflegte. Ein kanariengelbes Mieder war nur sehr nachlässig geschlossen. Silberne Ohrringe baumelten bis fast auf die Schultern, die Blondine balancierte ein Tablett mit vielen Humpen Bier und Schnapsgläsern, in denen eine grüne Flüssigkeit beunruhigend funkelte.
»Vooorsicht, Mann! Nun laßt mich mal durch!«
»So, Männer - pardon! - und Frauen! Die erste Runde hier, die geht auf mich!«
Jan war bester Stimmung, packte die nächstbeste Frau und schleppte sie auf die Tanzfläche, und ehe sie sich versah, tanzte Julia auch. Und Renate. Und Wolters. Und der alte Weber, der unternehmungslustig mit den Armen fuchtelte. Und Schuck. Die machten ihre Sache gar nicht schlecht, auch wenn dieser seltsame Ort etwas Instabiles hatte, er schien zu schwanken unter Julias Füßen. Ein Hades
mit Seegang, gab es so etwas? Julia kam sich ähnlich orientierungslos vor wie damals bei der Überfahrt mit der Fähre, nur viel weicher und nachgiebiger, und gleichgültig war ihr, wohin die Reise ging, wenn nur die Musik nicht aufhörte, die Musik, die alles zum Drehen brachte in Julias Kopf. Und jung war sie plötzlich wieder, ganz jung.
Julia erinnerte sich an schwüle Schulfetenabende, die sie in der Regel wartend verbracht hatte: wartend, daß »er« käme und sie zum Tanzen aufforderte. Was »er« natürlich nie tat. Er besuchte eine höhere Klasse und hätte glatt sein Gesicht verloren, wenn er mit so einem »kleinen Kind« tanzte. Das wußte sie und wartete dennoch und kostete diesen Schmerz
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