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Ostseeliebe

Ostseeliebe

Titel: Ostseeliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Jaskulla
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Knochenbau, als daß man von einer Dame hätte sprechen können - wenn nicht der feine, zarte Kopf gewesen wäre! Durch den überlangen Hals drängte sich die Vermutung geradezu auf, daß dieser Kopf auf den massigen Leib gewissermaßen aufgesetzt, jedenfalls durch irgendein Versehen dahin geraten war; das sehr blasse Gesicht wirkte fremd auf dem unförmigen Körper. Ein Wieselgesicht mit spitzer kleiner Nase, mit sorgfältig geschminktem Mund und kastanienfarbenen Augenbrauen, die zu hochfahrenden Bogen gestrichelt waren, was dem Gesicht einen staunenden, ungläubigen Ausdruck verlieh.
    Sie mochte Ende fünfzig sein, diese Dame, vielleicht ein wenig älter, und sie trug eine aufwendige, etwas altmodische Frisur: das halblange, kräftig rotgefärbte Haar auf dem Kopf antoupiert, dann offen bis auf die Schultern fallend, die Spitzen mit viel Fleiß und Disziplin nach außen gefönt - ein verzweifelter Versuch, für immer mädchenhaft zu bleiben. Das Mädchen, das sie vor vierzig Jahren gewesen sein mochte. Wenn sie trank, verzog sie das Gesicht. War das die Folge eines anerzogenen schlechten Gewissens oder ein Reflex, weil es ihr nicht schmeckte? Julia sah plötzlich die Fingernägel der rechten Hand, die das Glas hielt: unglaublich lange, gerade gefeilte Fingernägel, im klarsten Rot lackiert,
das sie seit langer Zeit gesehen hatte - Cabriolet-Rot, Rimini-Rot, Sechzigerjahrefarben... Die Frau schaute plötzlich zu ihr herüber, und Julia wandte erschrocken den Blick ab.
    Als sie wieder hinsah, magnetisch angezogen, bemerkte sie eine Veränderung. Die Frau schaute jetzt ständig auf ihre Armbanduhr, wurde unruhig, kramte in ihrem Täschchen, erhob sich, als wollte sie zu den Waschräumen gehen, ließ es dann aber. Mit einer unerwartet energischen Geste - sie hob das leere Glas - bestellte sie einen neuen Drink, den sie eilig hinunterkippte, so eilig, daß ihr ein paar Tropfen aus den Mundwinkeln liefen, den langen Hals hinunter, wie Blutstropfen, dachte Julia. Dann ging alles ganz schnell. Die Frau kramte aus ihrer Handtasche ein paar Scheine, rief: »Kellner!«, wartete dessen Kommen aber gar nicht ab, sondern legte das Geld, offenbar nicht abgezählt, auf den Tisch, sprang auf und verschwand in der Dunkelheit. Falls sie einen Mantel dabeigehabt hatte, zog sie ihn jedenfalls nicht an. Julia staunte: »Habt ihr das gesehen? Die Frau da, meine ich? Wohin will die denn um diese Zeit so eilig? Und ihren Mantel hat sie auch vergessen...«
    »Marga? Das ist Marga Niemann, die ist ein bißchen seltsam«, beschwichtigte Hilda. »Auf einer Insel gibt es viele merkwürdige Typen. Man gewöhnt sich dran. Leben und leben lassen!«
    Die anderen hatten in ihrem festlichen Eifer gar nichts mitbekommen und diskutierten immer noch über den weiteren Verlauf des Abends.
    »Kinder, heute wird überhaupt nicht mehr gefahren, heute wird nur noch gelaufen, und ich würde sagen: exakt bis in die Bar vom Wetterstein und keinen Zentimeter weiter!«
    Willem Johannsen sprach ein Machtwort, und weil er eingeladen hatte, fügten sich alle. Nach dem schweren Dessert konnte ein bißchen Bewegung nicht schaden, und zum
Nachhausegehen hatte keiner Lust. So schunkelten und schwankten sie hinüber zum Anleger. Die Ostsee gluckste, entfernt und friedlich. Irgendwo funkelten ein paar Lichter.

    Auf dem Weg kamen sie an der Telefonzelle vorbei, der einzigen, die funktionierte in Stiftsdorf, direkt am Friedhof. Die weißerleuchtete Kabine hob sich scharf vom dunklen Hintergrund ab, und in der Kabine stand eine Frau - Marga Niemann. Sie hielt den Hörer ans Ohr und rief etwas hinein, sehr laut, und offenbar wiederholte sie ständig einen kurzen Satz. Julia zupfte Hilda am Ärmel:
    »Hilda, schau mal...«
    »Ach ja, jetzt telefoniert sie wieder.«
    »Aber es sieht aus, als hätte sie was, als fehlte ihr was! Sollen wir nicht mal hingehen...«
    »Die läßt du man schön in Ruhe, Julia. Das is’ nämlich mal ausnahmsweise kein Pferd, nur daß du’s weißt!«
    Jan hatte die schwerfällige Sprache des Betrunkenen, und seine Augen glitzerten vergnügt.
    »Sie telefoniert jeden Abend. Jeden Abend, Schlag elf, kannst du Marga Niemann hier an der Telefonzelle sehen oder sonstwo an einem Telefon. Sie wartet auf den Anruf von ihrem Geliebten.« Jan machte eine pathetische Bewegung mit den Armen. »Der ist nämlich Seemann, der bedeutende Seemann Leszek Mysliwski.«
    »Leszek Mysliwski«, versuchte Julia zu wiederholen. »Und der ruft sie jeden Abend an?«
    »Nein.

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