Ostseeliebe
warten. Bis dahin machte der Buchladen nur auf Anfrage auf, ganz so, wie Erika es erzählt hatte: Man rief bei Runges an, und Mady oder Jörg schlossen die Tür auf, um den seltenen Gast einzulassen. Das taten sie mit einer seltsamen Resigniertheit, die gar nicht zu dem Umstand passen wollte, daß sie erst sechs Wochen auf der Insel waren. Was hatten sie erwartet? Sie hatten wissen müssen, daß die Touristen nur von Mai bis Ende September kamen. Einige Hartgesottene hielt es noch länger, aber die verkrochen sich nachmittags lieber in ihren reetgedeckten Katen und lasen Bücher, die sie vorsichtshalber gleich mitgebracht hatten. Und die Dorfbewohner lasen nicht. Sie kauften zwar täglich die Zeitung bei
Erika, aber Muße für längere Lektüren hatten sie nicht - zuviel gab es jetzt im Herbst zu tun. Und nachher, im Winter, würden sie einander mit Geschichten unterhalten, die sie sich abends in den wenigen Gaststuben erzählten, wie schon seit Jahrhunderten. Anekdoten, furchterregende und komische, gab es genug, und auch, wenn jetzt kaum noch Fischer mit den gruseligsten Abenteuern von der See zurückkehrten, so gab es doch immer noch genug Reisende: Saisonarbeiter und Internatsschüler, ein paar Studenten und Montageleute, alle im steten Kommen und Gehen begriffen. Fremde Abenteuer brauchte man hier nicht. Und so saß Mady in ihrem Laden, während Jörg, dessen Gesicht mittlerweile nur noch von der schwarzen Metallbrille zusammengehalten zu werden schien, verbissen irgendwo im Haus herumwerkelte. Das würde zweifellos ein Schmuckstück werden, wie bei allen unglücklichen Paaren, wie bei allen, die nichts so sehr fürchten wie das Innehalten...
»Mami!«
Das war Jenny, wie immer mit der kleinen Schwester Sandra im Schlepptau. Mady Runge zuckte zusammen. Ihre Wangen sanken noch ein wenig tiefer herab. Sie wandte sich Julia zu, müde:
»Entschuldige …«
Die Ladentür wurde aufgestoßen, und aufgeregt stürmten die beiden Mädchen herein, einen Eimer zwischen sich. Durch den dünnen metallenen Henkel hatten sie einen Stock gezogen, damit trugen sie das offenbar schwere Ding mit vereinten Kräften.
»Mami, Mami...«
Es schwappte.
»Himmeldonnerwetter, ihr könnt doch hier nicht mit nassen Klamotten rein! Die ganzen Bücher!«
Die Kinder verstummten, den Eimer zwischen sich, und trauten sich nicht, ihn abzusetzen.
Julia kam den Kindern zu Hilfe. Immerhin gab es hier im Laden ja keine seltene Erstausgabe von Musil zu schützen oder eine leibhaftige Tucholsky-Handschrift, ja nicht einmal ein komplettes Brockhaus-Lexikon blockierte eine der ellenlangen Regalreihen. Die meisten Bücher waren ohnedies verpackt.
»Mady, es ist doch nicht so schlimm! Kinder, was habt ihr denn da?«
Julia hockte sich neben Jenny. Die fiel augenblicklich in ihre Phantasiesprache:
»Deju-hallu-guckstu?«
Julia nahm den Mädchen vorsichtig den Eimer ab. Er war gut zur Hälfte mit Wasser gefüllt, und ihm entstieg der Geruch nach Meer und Verwesung. Nach viel Meer und viel Verwesung! Julia rümpfte die Nase und warf einen Blick in das Behältnis. Jede Menge Schlick, brackiges Wasser und eine gallertartige Masse, mehrere, aber völlig verklumpte, schleimige Dinge lagen da übereinander: Quallen, Ohrenquallen waren es.
»Brrr …«
Mady Runge schüttelte sich. Vor ein paar Wochen hatte Julia mit den Quallen auch noch nichts anfangen können...
Und wieder wurde die Tür geöffnet, und herein kam Malte, der neulich abends die Frauen unterhalten hatte. Mady strahlte. Es war eindeutig: Sie war keineswegs überrascht, den rothaarigen Seemann hier zu treffen, und sie freute sich über alle Maßen. Malte nahm seine Mütze ab.
»Hallo, Mady.«
»Malte, Malte!«
Die Kinder stürmten auf ihn zu und hätten fast den Eimer umgerissen. Kein Zweifel, man kannte sich.
»Was habt ihr denn da?«
Malte schaute sich den Eimer an. Und dann Julia. In umgekehrter Reihenfolge.
»Tachchen, Fräulein Völcker!«
Dann brachte Mady Bier, und irgendwie nötigten sie Julia zu bleiben, und aus Kindersicht entstand im Handumdrehen eine gemütliche Räuberhöhle: Julia wieder auf einer der Kisten, die Beine angezogen, aber nun mit einem wärmenden Plaid versehen. Malte, ihr gegenüber, im Schneidersitz auf dem Boden, den Eimer neben sich, in den die beiden Mädchen immer mal wieder mit einem Finger stippten, um zu fühlen, ob die seltsamen Meeresungeheuer nicht vielleicht doch wieder zum Leben zu erwecken wären. Und eine plötzlich ganz aufgeräumte
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