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Ostseeliebe

Ostseeliebe

Titel: Ostseeliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Jaskulla
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selbst nicht mehr.

9
    Sie träumte von übervollen Taschen. Von Säcken, die sie mit sich schleppte, gefüllt mit guten, aber geheimnisvollen Waren. Sie träumte von Schwangerschaft, von einem Zustand, der sich hell wie Milch und schwer wie nasse Wolle anfühlte. Wenn sie aufwachte, spürte sie, daß sie im Schlaf gelächelt hatte.

    Julia Völcker, siebenundzwanzig, ein Meter zweiundsiebzig, braune Haare, Literaturwissenschaftlerin aus Bielefeld in Nordrhein-Westfalen, war mit sich ganz und vollkommen einverstanden. Wie ein Tier, das einen Platz für den Winter gefunden hat - nein, eher wie eines, dem sich nach überstandenem Winter der Weg aus der Höhle in die Freiheit zeigt. Die Höhle, das waren Geborgensein, Sicherheit in den kalten Monaten, ein lebensnotwendiger Schutz. Aber nun brach der Frühling aus, im Oktober auf der Insel, und ihre Höhle wurde zum Gefängnis. Selbst gebaut, selbst gewählt, selbst verurteilt. Und daraus fand sie den Weg. So fühlte sie sich. Wie ein Tier, das Reisig beiseite räumt und dicke Laubschichten, weil es sich an etwas erinnert aus einer früheren Zeit. Eine pflanzliche Liebe, eine Liebe wie Johanniskraut: gelb leuchtend, heilkräftig. Eine So-ist-es-gut-Liebe. So empfand Julia Hanno gegenüber. Sie sagte »Liebe«, und sie wunderte sich nur ein paar Stunden, daß
sie das dachte. Es war eine Liebe, die aus einer anderen Zeit, nein, aus gar keiner Zeit, aus einer Zeit vor der Zeit zu ihr gekommen war. Sie hatte nur die Hände aufhalten müssen. Julia war glücklich, sie war ohne jeden Zweifel, sie war von schamlosem, eindeutigem, sinn- und zwecklosem Glück erfüllt. Sie schaute in den Spiegel: Glück. Sie strich mit einer perforierten Pappecke Senf auf die Bratwurst - Glück. Sie sortierte Karteikarten über Orte, an denen Ladestein gewesen war: Malmö, Berlin, Stralsund - Glück.
    Es konnte nicht so bleiben.
    Julia begann, auf andere Menschen zu achten. Bei der Buchhändlersfamilie verbrachte sie gleich am nächsten Tag viele Stunden. Sie tat so, als würde sie ernsthaft mit den Büchern rechnen, die sie bei Runges bestellt hatte, dabei wäre es vermutlich schneller gegangen, mit der Fähre zur großen Insel überzusetzen und das bißchen Fachliteratur, das sie brauchte und das Jeanette ihr nicht schicken konnte, in den sehr viel besser ausgestatteten Läden in Stralsund oder Rostock abzuholen. Aber etwas zog sie unwiderstehlich hin zu dem kleinen Buchhändlerhaus, das aussah wie ein Kinderspielzeug, ein langgestrecktes Dreieck aus Holz, in einer schönen skandinavischen Lasur gestrichen: Rot wie Häuser in den schwedischen Schären. Die Runges träumten von Schweden; wenn sie nur gekonnt hätten, wären sie auf der Stelle noch weiter nach Norden gereist. Und Julia wurde das Gefühl nicht los, daß ihnen dieses Zwischenleben hier nicht gut bekam. Sicher, nach außen hin konnte es schon als radikaler Schritt erscheinen, eine Existenz in der Detmolder Innenstadt aufzugeben und dieses sichere Leben gegen ein weitaus ungewisseres auf einer Insel einzutauschen. Aber die Runges hatten nur einen halben Traum riskiert, ihr eigentliches Ideal, das hatten sie Julia erzählt, war eben Schweden - und dem waren sie hier kein Stückchen nähergekommen. Noch nie war hier ein schwedischer Tourist gesehen
worden, und doch hielten die Runges hartnäckig auch schwedische Literatur bereit, vor allem von Schriftstellern, die sie selber schätzten. Und noch etwas fiel Julia auf: Meist stimmten die Aussagen der beiden auf geradezu gespenstische Art überein, und dennoch hatte sie immer das Gefühl, zwei Menschen gegenüberzustehen, die einander völlig fremd waren. Es war eine eingeübte Einigkeit, die die beiden verströmten, und die sie schon lange nicht mehr beanspruchte - jedenfalls nicht so sehr, wie es sie beansprucht hätte, ihre offensichtliche Beziehungslosigkeit auszusprechen und daran etwas zu ändern.
    Zwischen den beiden läuft bestimmt nichts mehr, dachte Julia, als sie, auf einer der vielen Holzkisten hockend, Mady beobachtete, die nach einem Vogelbuch für Julia kramte und dabei Karton um Karton zur Seite schob:
    »Bekassine müssen unbedingt drin vorkommen, ja? Und auch sämtliche Rallen und Schnepfenvögel?«
    Mady hantierte mit eckigen Bewegungen und warf immer wieder einen lose um den Hals geschlungenen Schal nach hinten über die Schulter. Es war ziemlich kalt hier, die Runges heizten das Erdgeschoß des kleinen Hauses nicht, sie hatten beschlossen, damit bis zur Saison zu

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