Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
dann in die Nachrichtenbank. Sie guckte Berichte über diverse weit entfernte Probleme – über Quarantänemaßnahmen in Zentralafrika wegen einer neuen Abart des Bukavu-Virus, einen Tsunami in den Philippinen, UN-Sanktionen gegen den Freistaat Rotes Meer und eine Gruppenklage gegen einen Kinderbetreuungsdienst in Johannesburg – und dann noch die Lokalnachrichten, die jede Menge Bildmaterial über die Bombe im College brachten. Es war merkwürdig, im Netz zu sein und sich im Stereobild von 360 Grad dasselbe anzuschauen, was sie an dem Vormittag schon einmal in echt gesehen hatte. Es war schwer zu sagen, welche Erfahrung realer wirkte. Und überhaupt, was hieß heutzutage denn schon »real«?
Die Kopfarmatur wurde ihr zu eng und drückend, deshalb setzte sie sie ab und schaute sich die übrigen Nachrichten, die sie noch sehen wollte, auf dem Wandbildschirm an. Bei voller Immersion hatte sie ohnehin immer das Gefühl, noch in der Arbeit zu sein.
Erst als sie allen für den nächsten Tag etwas zu Mittag gemacht, dann den Wecker gestellt und sich ins Bett gelegt hatte, kam das Gefühl, das schon den ganzen Abend an ihr genagt hatte, endlich an die Oberfläche: Stephen hatte sie irgendwie an der Nase herumgeführt. Sie hatten über etwas geredet, und er hatte das Thema gewechselt, und sie waren nicht mehr darauf zurückgekommen. Sein anschließendes Verhalten war ziemlich verdächtig gewesen und ließ darauf schließen, daß er etwas verheimlichte.
Sie konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, worüber sie geredet hatten – über irgendwelche Netboytricksereien wahrscheinlich. Sie nahm sich vor, ihn noch einmal darauf anzusprechen.
Aber es gab so viel zu tun, so furchtbar viel zu tun. Und nie genug Stunden am Tag.
Das ist es, was ich brauche. Der nahende Schlaf benebelte sie; sogar ihre Gedanken fühlten sich schwer an, wie eine Last, die sie nur zu gern abwerfen würde. Ich brauche nicht noch mehr Netz, noch mehr realistische Immersion, noch mehr Bilder und Töne. Ich brauche einfach mehr Zeit.
> »Jetzt habe ich es gesehen.« !Xabbu betrachtete die weit weg erscheinenden weißen Wände der Simulation. »Aber ich verstehe es immer noch nicht richtig. Du sagst, dieser Ort ist nicht real?«
Sie wandte sich ihm voll zu. Obwohl ihr Äußeres nur andeutungsweise menschlich war, beruhigte es Anfänger, wenn so viele Formen normaler Interaktion wie möglich erhalten blieben. !Xabbu war in dieser Anfängersimulation eine graue menschenartige Figur mit einem roten X auf der Brust. Obwohl das X ein normaler Bestandteil des Simuloiden war, hatte Renie auf ihre Figur ein entsprechendes knallrotes R geschrieben – auch dies, um die Umstellung zu erleichtern.
»Ich möchte nicht unhöflich sein«, sagte sie vorsichtig, »aber ich bin es wirklich nicht gewohnt, Sitzungen dieser Art mit einem Erwachsenen durchzuführen. Sei bitte nicht beleidigt, wenn ich etwas erkläre, was dir ganz selbstverständlich vorkommt.«
!Xabbus Simuloid hatte kein Gesicht, somit auch keinen Gesichtsausdruck, aber seine Stimme war unbefangen. »Ich bin nicht leicht zu beleidigen. Und ich weiß, daß ich ein merkwürdiger Fall bin, aber im Okawangobecken gibt es keinen Netzanschluß. Bitte bringe mir alles bei, was du einem Kind beibringen würdest.«
Wieder fragte sich Renie, was !Xabbu ihr wohl verschwieg. In den letzten paar Wochen war deutlich geworden, daß er über ungewöhnliche Verbindungen verfügte – niemand sonst an der Technischen Hochschule hätte ohne Vorkenntnisse einen Platz im Networkerkurs für Fortgeschrittene bekommen. Es war, als wollte man jemanden, der das ABC lernen sollte, in ein Literaturseminar an der Universität Johannesburg schicken. Aber er war gescheit, sehr gescheit: Bei seiner kleinen Statur und seiner förmlichen Art war man wirklich versucht, ihn für ein Wunderkind oder eine Art Naturgenie zu halten.
Andererseits, dachte sie, wie lange würde ich nackt und unbewaffnet in der Kalahari überleben? Nicht allzu lange. Zum Leben in der Welt gehörte immer noch mehr als Netzerfahrung.
»Also gut. Das Basiswissen über Computer und Datenverarbeitung hast du. Wenn du nun fragst: ›Ist dieser Ort real?‹ wirfst du damit ein sehr schwieriges Problem auf. Ein Apfel ist real, stimmt’s? Aber das Bild eines Apfels ist kein Apfel. Es sieht aus wie ein Apfel, es erinnert dich an Äpfel, du kannst sogar beschließen, daß ein abgebildeter Apfel wahrscheinlich besser schmeckt als ein anderer – aber
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