Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
dunkel. Hatte ’nen Bart, ’nen Hut. Wieso willst du das wissen?«
Der Mann, der sie beschattet hatte, war bartlos gewesen, aber das bewies nichts – rasieren konnte sich jeder.
»Ich … ich mach mir Sorgen, Papa. Ich glaube, es könnte sein, daß mich jemand verfolgt.«
Sein Gesicht verfinsterte sich. »Was’n das für’n Quatsch? Dich verfolgen? Wer denn?«
»Ich weiß es nicht. Aber … aber ich glaube, ich bin jemand auf die Füße getreten. Ich hab ein paar Nachforschungen angestellt, wegen dem, was mit Stephen passiert ist. Auf eigene Faust.«
Immer noch finsteren Blicks schüttelte Long Joseph den Kopf. »Was redst du da für’n dummes Zeug, Mädel? Wer soll dich verfolgen? Ein verrückter Doktor?«
»Nein.« Sie legte ihre Hände um die Tasse, trotz des heißen Tages irgendwie glücklich über die Wärme. »Ich glaube, was ihm zugestoßen ist, hat mit dem Netz zu tun. Ich kann’s nicht erklären, aber das denke ich jedenfalls. Deshalb bin ich meine alte Professorin besuchen gefahren.«
»Und was hat dir die alte weiße Hexe genützt?«
»Herrgott, Papa! Ich versuche, mit dir zu reden! Du hast von Susan Van Bleeck keinen blassen Dunst, also sei einfach still!«
Er machte Anstalten aufzustehen, so daß sein Kaffee überschwappte.
»Wirst du wohl sitzen bleiben! Ich rede mit dir über was Wichtiges. Hörst du mir jetzt vielleicht mal zu? Ich bin nicht die einzige Angehörige, die Stephen hat, oder? Er ist auch noch dein Sohn.«
»Und ich geh heut abend zu ihm.« Long Joseph war tief getroffen in seinem Stolz, obwohl das erst sein fünfter Besuch war und alle auf Renies energisches Drängen hin erfolgt waren. Aber er hatte sich wieder hingesetzt und schmollte jetzt wie ein gescholtenes Kind.
Sie erzählte ihm so viel, wie sie konnte, wobei sie die gewagteren Spekulationen für sich behielt und die Geschichte von ihrer letzten Stunde in Mister J’s ganz ausließ. Sie war zu alt und viel zu unabhängig, um sich von ihm etwas verbieten zu lassen, aber sie durfte die Möglichkeit nicht außer acht lassen, daß er beschloß, sie vor sich selbst zu schützen, und zu dem Zweck vielleicht ihr Pad oder andere Geräte demolierte, nachdem er sich mit ein paar Drinks ins Gedächtnis gerufen hatte, daß er unter anderem von kriegerischen Zulus abstammte. Sie konnte ihre Ermittlungen vom Arbeitsplatz aus weiterführen, wenn es sein mußte, aber sie hatte die TH schon tiefer mit hineingezogen, als ihr lieb war, und außerdem war sie wegen ihrer Krankheit mit der Arbeit weit im Rückstand.
Long Joseph war merkwürdig still, als sie mit ihren Erklärungen fertig war. »Wundert mich nich, daß du dich fast umbringst, wenn du den ganzen Tag arbeitest und dann noch mit dem ganzen andern Kram rummachst«, sagte er schließlich. »Klingt mir alles nach ’nem Haufen dummes Zeug. Irgendwas in ’nem Computer soll den Jungen krank gemacht haben? Sowas hab ich noch nie gehört.«
»Ich weiß es nicht. Ich erzähl dir bloß, was ich in letzter Zeit gedacht und gemacht hab. Ich hab keine Beweise.«
Bis auf ein sehr verschwommenes Bild von einer Stadt, dachte sie. Und das auch nur, weil ich mein Pad mit zu Susan genommen habe. Nur weil ich nicht zuhause war, als das Feuer ausbrach.
Als ob er ihre Gedanken gehört hätte, sagte ihr Vater abrupt: »Du denkst, jemand hat unsre Wohnung angesteckt?«
»Ich … ich weiß es nicht. Ich will nicht glauben, daß es so ernst ist. Ich bin davon ausgegangen, daß es nur ein ganz normaler Hausbrand war, ein Unfall.«
»Weil, wenn du dich mit den falschen Leuten anlegst, zünden sie dir das Dach überm Kopf an. Das weiß ich, Mädel. Ich hab’s erlebt.« Long Joseph streckte die Beine aus und starrte auf seine strumpfsockigen Füße. Trotz seiner Länge wirkte er plötzlich sehr klein und sehr alt. Er beugte sich vor und grunzte leise, als er am Boden nach seinen Schuhen tastete. »Und jetzt denkst du, jemand verfolgt dich?«
»Kann sein. Ich weiß es nicht. Im Moment weiß ich gar nichts mehr.«
Verdrossen und ein klein wenig ängstlich schaute er zu ihr hoch. »Ich weiß auch nich, was ich sagen soll, Irene. Ich hoff nur ungern, daß meine Tochter nich ganz richtig im Kopf is, aber die andere Vorstellung gefällt mir nich besonders.« Er richtete sich auf, die glücklich gefundenen Schuhe in der Hand. »Ich zieh die jetzt an, und dann gehn wir den Jungen besuchen.«
> Nach dem Besuch führte sie ihren Vater in den Umkleideraum, damit er seinen Ensuit ausziehen
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