Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
dämmerigen Universum kam das einzige reine Licht von den Flammen dieses kleinen Feuers.
»Er wird aber nur wenige nehmen«, sagte die Stimme. »Die anderen werden sicher sein. Nur wenige.«
»Nein! Wir dürfen ihm keinen einzigen überlassen!« Sie streckte die Hand aus, doch der Arm, nach dem sie griff, zerflatterte wie Rauch. Das Raunen wurde lauter. Etwas kam näher, etwas Riesiges, das die Bäume und Steine erschütterte, das heiser schnaufte. Sie versuchte, ihren Freund zurückzureißen, aber er schien ihr in den Händen zu zergehen. »Nicht! Geh nicht!«
Die Urnacht selbst legte sich über sie, den Rachen der Finsternis weit aufgerissen…
Nach Atem ringend setzte sich Renie auf. Das Raunen tönte ihr immer noch in den Ohren, lauter jetzt, keuchende und ächzende Stimmen. Irgend etwas rumste ganz nahe im Dunkeln. Sie wußte nicht, wo sie war.
»Gebt Ruhe da drüben!« schrie jemand, und sie erinnerte sich, daß sie in der Unterkunft waren. Aber die Geräusche waren nicht weit weg. Nur einen Meter vor ihr auf dem Fußboden wurde gerungen.
»Papa!« Sie tastete nach der Taschenlampe und knipste sie an. In ihrem Licht sah sie Leiber, die wild um sich schlugen, sich herumwälzten und gegen die Preßspanwände knallten. Sie sah den hell gestreiften Schlafanzug ihres Vaters und dicht daneben eine andere Taschenlampe liegen, die Licht verströmte wie ein umgekippter Kelch. Sie rollte vom Bett, umklammerte den Hals von Long Josephs Angreifer und schrie: »Hilfe! So helft uns doch!«
Aus anderen Kojen drangen immer noch grummelnde Laute, aber einige der Bewohner schienen sich zu ermannen. Sie ließ ihren Griff nicht locker, faßte dem Fremden in die Haare und riß seinen Kopf zurück. Er stieß einen schrillen Schmerzensschrei aus und packte ihre Hand.
Ihr Vater nutzte die kurze Ablenkung aus, um davonzukrabbeln. Der Fremde entwand sich Renies Griff, aber statt zu fliehen, kauerte er sich in eine Ecke der Koje und schlang die Arme über den Kopf, um weitere Angriffe abzuwehren. Renie richtete die Taschenlampe auf ihn, als sie ihren Vater mit einem langen stumpfen Küchenmesser in der Hand zurückkommen sah.
»Papa! Nicht!«
»Ich bring das Schwein um.« Er war völlig außer Atem. Sie roch seine säuerliche Alkoholausdünstung. »Meine Tochter zu verfolgen!«
»Das wissen wir gar nicht! Er kann sich doch auch in der Koje geirrt haben. Jetzt wart doch, verdammt!« Sie kroch ein Stück auf den geduckten Fremden zu. »Wer bist du?«
»Der hat Bescheid gewußt. Ich hab ihn deinen Namen flüstern hören.«
Renie fuhr ein Schreck durch die Glieder – konnte es !Xabbu sein, der sie suchte? Doch selbst bei dem wenigen Licht sah man, daß der Fremde viel zu groß war. Sie streckte vorsichtig die Hand aus und tippte seine Schulter an. »Wer bist du?« wiederholte sie.
Der Mann blinzelte in den Lichtstrahl. Er hatte quer über dem Haaransatz einen Schnitt, aus dem ihm das Blut über die Stirn rann. Sie brauchte lange, bis sie ihn erkannte.
»Jeremiah?« sagte sie. »Aus Doktor Van Bleecks Haus?«
Sein stierer Blick verriet, daß er sie hinter dem Lampenschein nicht erkennen konnte. »Irene Sulaweyo?«
»Ja, ich bin’s. Um Gottes willen, was geht hier vor?« Sie stand auf. Mehrere Leute aus den benachbarten Kojen versammelten sich bereits draußen vor dem Vorhang, einige mit Verteidigungswaffen in der Hand. Sie ging hinaus, bedankte sich bei ihnen und erklärte, es habe sich um eine Verwechslung gehandelt. Nach und nach verliefen sie sich wieder, alle deutlich erleichtert, wenn auch einige Verwünschungen gegen ihren versoffenen Vater ausstießen.
Als sie wieder hineinkam, saß Jeremiah Dako an der Wand und beäugte ihren Vater mit einigem Mißtrauen. Renie fand die kleine elektrische Lampe und schaltete sie an, dann gab sie Dako ein paar Stück Küchenpapier, damit er sich sein blutiges Gesicht abwischen konnte.
Ihr Vater, der den Eindringling immer noch anstarrte, als ob dem jeden Moment Fell und Fänge wachsen könnten, ließ sich von ihr auf einen Klappstuhl plazieren.
»Ich kenne diesen Mann, Papa. Er arbeitet für Doktor Van Bleeck.«
»Und was schleicht er um die Zeit hier rum? Is er dein Verehrer oder was?«
Dako schnaubte entrüstet.
»Nein, ist er nicht.« Sie drehte sich um. »Aber was führt dich jetzt um …«, sie schaute auf ihre Uhr, »um ein Uhr morgens hierher?«
»Die Frau Doktor schickt mich. Ich konnte deine Telefonnummer nirgends finden.«
Sie schüttelte befremdet den Kopf.
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