Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Gesichtsausdruck über die Schulter, als blickten sie hinter dem- oder derjenigen her.
Renie schob ihre Tasche zurecht und schritt ein wenig zielstrebiger aus. Es war nicht nach Einbruch der Dunkelheit, und sie war auch nicht der einzige Mensch auf der Straße. Eine kleine Schar stand nur hundert Schritte weiter vor dem Geschäft an der Ecke, und wenigstens ein halbes Dutzend Leute war noch näher an ihr dran. Es konnte ja sein, daß sie irgendwie in Schwierigkeiten steckte, aber es war gefährlich, sich einzureden, daß man verfolgt wurde.
Als sie wartete, um über die Straße zu gehen, schaute sie sich beiläufig um. Ein schlaksiger Mann, der ein dunkles Hemd und eine Sonnenbrille mit Metallrahmen trug, blickte starr in das Schaufenster mit dem Kleid. Er erwiderte ihren Blick nicht und verriet durch nichts, daß er sie überhaupt zur Kenntnis genommen hatte, aber sie hatte dennoch das Gefühl, daß eine Art Wachsamkeit von ihm ausging.
Vielleicht fürchtete sie sich schon vor ihrem eigenen Schatten. Andererseits, sagte man das nicht, wenn einen jemand verfolgte – daß man beschattet wurde?
Es ist gefährlich zu glauben, daß man verfolgt wird, aber vielleicht ist es auch gefährlich, es nicht zu glauben.
Sie betrat das Geschäft an der Ecke, obwohl sie ihre Einkäufe schon in der Nähe der TH erledigt hatte, wo die besseren Läden waren. Als sie mit einer Limonade in der Hand wieder herauskam, war von dem Mann im dunklen Hemd nichts mehr zu sehen.
Die Unterkunft war einmal ein LKW-Depot gewesen, und sie hatte sich trotz allem etwas von ihrer früheren Gemütlichkeit und Wärme bewahrt. Die zwölf Meter hohen Decken hatten Lücken an den Stellen, wo das billige Wellfibramic nicht ganz zusammenstieß. Der Fußboden war aus Beton, hier und da noch schwarz von alten Ölflecken. Das Sozialamt von Groß-Durban hatte getan, was es konnte, hauptsächlich mit Freiwilligenhilfe – der riesige Raum war mit Preßspanplatten in wabenartige Kojen aufgeteilt worden, vor die man Vorhänge hängen konnte, und in einem großen, mit Teppichen ausgelegten Gemeinschaftsbereich in einer Ecke gab es einen Wandbildschirm, einen großen Gasofen, Wurfscheiben und einen alten Billardtisch –, aber das Gebäude war nach der Überschwemmung drei Jahre zuvor im Eilverfahren umgewandelt worden, und seitdem hatte man nichts mehr daran gemacht. Zu der Zeit war es nur als vorübergehende Unterbringung der Flutopfer aus den tiefer gelegenen Stadtteilen gedacht gewesen, aber nachdem die Überschwemmung zurückgegangen war, hatte die Stadt das Gebäude behalten. Zwischen den relativ raren Notfällen vermietete sie es für Tanzveranstaltungen und politische Versammlungen, obwohl es einen Kern von Bewohnern hatte, die nie andere Wohnungen fanden. Die Unterkunft zu behalten, hatte jedoch nicht bedeutet, sie verbessern zu können. Renie rümpfte die Nase, als sie den offenen Bereich nahe des Eingangs durchquerte. Wie konnte ein Raum, der bei kaltem Wetter so zugig war, im Sommer dermaßen die Hitze halten und stinken?
Sie stellte die Tüten in der drei mal vier Meter großen Zelle ab, die ihre Notbehausung war. Ihr Vater war nicht da, aber damit hatte sie auch nicht gerechnet. Sie zog den Zündstreifen an einer Zigarette, schleuderte ihre Schuhe von sich und machte dann den Vorhang zu, damit sie ihre Arbeitskleidung wechseln und so einigermaßen sauber halten konnte. Nachdem sie sich in Shorts und ein locker sitzendes Hemd geworfen hatte, stellte sie die Lebensmittel in den winzigen Kühlschrank, setzte den Kessel auf die Kochplatte, drückte ihre Zigarette aus und machte sich auf die Suche nach Long Joseph.
Sie fand ihn vor dem Wandbildschirm mit dem üblichen Klüngel von Männern, manche in seinem Alter, manche jünger. Sie guckten sich ein Fußballmatch an, das auf irgendeinem grünen Rasen ausgetragen wurde, ein Spiel zwischen gut bezahlten Profis in einer der kommerziellen Arenen im Nirgendwo, die nur als Übertragungsorte existierten; das echte Spiel auf der Straße nur unweit entfernt fiel ihr ein. Was brachte die jungen Männer aus dem Sonnenschein nach drinnen und machte aus ihnen die nur wenig älteren Männer hier – maulfaul, aber streitlustig, seicht, ohne anderen Ehrgeiz, als den lieben langen Nachmittag über bei ein paar Bierchen in einem dampfigen Lagerhaus zu sitzen? Wie ging das zu, daß Männer zuerst so stark waren, so vital, und dann so miesepetrig wurden?
Ihr Vater sah bei ihrem Kommen auf und versuchte mit einer
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