Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
versah.
Während sie im Bus gesessen hatte, war es draußen noch heißer geworden, obwohl die Sonne schon tief am Horizont hing; sie fühlte, wie ihr der Schweiß den Nacken und das Rückgrat hinunterrieselte. Vor dem Brand war ihre Haltestelle nur ein paar Straßen von ihrer Wohnung entfernt gewesen, und schon die Distanz war ihr am Ende eines Arbeitstages immer als furchtbare Strapaze erschienen. Nur zwei Wochen später blickte sie mit nostalgischer Wehmut auf die gute alte Zeit zurück.
Die Straßen von Lower Pinetown waren wie gewöhnlich zu dieser Tageszeit voll. Leute aller Altersgruppen standen und saßen in Hauseingängen und auf Treppenstufen herum, tratschten von Tür zu Tür oder sogar über die Straße hinweg mit den Nachbarn und brüllten sich lautstark saftige Sprüche zu, damit alle in Hörweite mitlachen konnten. Mitten auf der Straße trug eine Gruppe junger Männer ein Fußballmatch aus, aufmerksam verfolgt von einer Horde Kinder, die auf den Bürgersteigen mit der jeweils angreifenden Mannschaft von einem Ende der Straße zum anderen liefen, und weniger aufmerksam von den Zaungästen auf den Verandas. Die meisten Spieler hatten nur Shorts und abgestoßene Takkies an. Renie betrachtete die Bewegungen ihrer schweißglänzenden Körper und hörte sie lachen und rufen und verspürte dabei ein tiefes, hohles Verlangen nach einem, der sie in den Arm nahm und sie liebte.
Zeitverschwendung, Frau. Viel zu viel Arbeit.
Einer der jungen Männer beim Spiel, gertenschlank und kahlrasiert, sah ein wenig aus wie ihr früherer Freund Del Ray, hatte sogar etwas von seinem rotzigen Charme. Einen Moment lang war er es, der dort vor ihr auf der Straße lief, obwohl sie wußte, daß der junge Bursche, der ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, Jahre jünger war. Sie fragte sich, was der wirkliche Del Ray wohl machte, wo er in diesem Augenblick war. Sie hatte schon eine ganze Weile nicht mehr an ihn gedacht und war sich nicht sicher, ob sie sich freute, an ihn erinnert zu werden. War er nach Johannesburg gegangen, wie er es immer geschworen hatte? Bestimmt hatte ihn nichts davon abhalten können, in die Politik zu gehen und auf der Leiter des Ruhms nach oben zu steigen – Del Ray war sehr ehrgeizig gewesen. Oder war er noch hier in Durban und kam vielleicht gerade von der Arbeit nach Hause zu seiner wartenden Frau? Es war mindestens fünf Jahre her, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, und in der Zeit konnte alles mögliche passiert sein. Er konnte Kinder haben. Genauso gut konnte er tot sein.
Sie zitterte ein wenig und merkte dabei, daß sie mitten auf dem Bürgersteig stehengeblieben war. Der junge Mann, der gerade vor der ganzen Meute hersauste und mit dem abgescheuerten Ball dribbelte, flog an ihr vorbei. Sie sah ein goldenes Blitzen in seinem angestrengten Grinsen. Eigentlich sah er Del Ray gar nicht besonders ähnlich.
Eine Schar kleiner Kinder fegte an ihr vorbei wie eine Meereswelle, immer hinter dem auf das Tor zuflitzenden jungen Mann her, der gar nicht ihr früherer Freund war. Sie mußte ihre Tüten festhalten, als der schreiende Haufen vorbeistürmte, und setzte sich dann wieder in Bewegung. Nach wenigen hundert Metern war sie an den Verandas vorbei und in dem kleinen und ziemlich deprimierenden Einkaufsviertel.
Ihr Blick blieb an einem Kleid in einem Schaufenster hängen. Sie ging langsamer. Der helle Stoff hatte einen eigentümlichen Glanz, und das schräg fallende Sonnenlicht schien unregelmäßig darauf zu spielen. Es war seltsam, aber irgendwie faszinierend, und sie blieb stehen, um es sich genauer anzuschauen. Es war lange her, seit sie sich zum letztenmal Sachen gekauft hatte, die nicht bloß praktisch waren.
Mit einem leisen Gefühl siegreichen Märtyrertums schüttelte sie den Kopf. Wenn sie jemals ihr Geld hatte sparen müssen, wenn sie sich jemals etwas nicht hatte leisten können, bloß weil sie es hübsch fand, dann jetzt.
Als sie sich wieder zum Bürgersteig umdrehte, fiel ihr eine Bewegung in oder hinter der spiegelnden Scheibe ins Auge. Einen Moment lang meinte sie, es sei jemand im Schaufenster, aber aus einem anderen Blickwinkel sah sie, daß das Fenster bis auf die Kleiderpuppen leer war. Etwas hatte sich ganz dicht hinter ihr bewegt. Sie fuhr herum, aber sah nur noch den Streifen eines dunklen Kleidungsstücks in der nächsten Seitenstraße verschwinden. Neben ihr auf dem Bürgersteig schauten zwei junge Frauen, die in die andere Richtung gingen, mit leicht verblüfftem
Weitere Kostenlose Bücher