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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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konnte, dann legte sie umständlich ihren ab, faltete ihn sogar zusammen, bevor sie ihn in den gekennzeichneten Wäscheschacht warf. Als sie fertig war, ging sie auf die Toilette, setzte sich auf den Klodeckel und weinte. Das Weinen fing klein an, aber wenig später bekam sie schon kaum mehr Luft. Sogar ihre Nase lief, aber das kümmerte sie nicht.
    Er war dort, irgendwo. Ihr Stephen, ihr kleiner Bruder, das Baby mit den verwunderten Augen, das immer zu ihr ins Bett gekrochen war, war irgendwo dort drinnen in diesem Körper. Die Lichter an den Apparaten, die Meßgeräte an seinem Schädel, das ganze Instrumentarium der modernen Medizin – oder was dem Klinikum Durban Outskirt davon zur Verfügung stand –, alles zeigte an, daß er nicht hirntot war. Noch nicht. Aber seine Glieder verkrampften sich mit jedem Tag mehr, und seine Finger hatten sich trotz der Physiotherapie zu festen Fäusten verkrallt. Wie hatte dieser schreckliche, schreckliche Ausdruck gelautet? »Gleichbleibender vegetativer Zustand.« Wie eine schrumplige Wurzel. Nichts übrig als ein im Boden steckender Rest, innerlich wie äußerlich dunkle Reglosigkeit.
    Sie konnte ihn nicht fühlen – das war das Schrecklichste. !Xabbu hatte gemeint, seine Seele sei irgendwo anders, und obwohl das genau die spiritualistische Leier war, die sie normalerweise mit einem Nicken quittierte und ansonsten im stillen verachtete, mußte sie zugeben, daß sie dasselbe Gefühl hatte. Der Körper war der von Stephen, und er war noch am Leben, aber der wirkliche Stephen war nicht darin.
    Aber worin bestand dann noch der Unterschied zu einem gleichbleibenden vegetativen Zustand?
    Sie war müde, so müde. Je mehr sie rannte, um so weniger schien sie vom Fleck zu kommen, und sie wußte nicht, wo sie die Kraft hernehmen sollte, weiterzurennen. In solchen Momenten kam ihr sogar ein furchtbarer Tod wie der ihrer Mutter im Vergleich wie ein Segen vor – wenigstens hatte das Opfer Ruhe und Frieden und die trauernde Familie eine gewisse Erlösung.
    Renie riß einen Streifen grobes Toilettenpapier ab und putzte sich die Nase, dann noch einen, um sich Augen und Wangen abzuwischen. Ihr Vater wurde wahrscheinlich langsam ungeduldig. Die alten Zeitschriften, die im Wartezimmer herumlagen, waren nicht von der Sorte, die ihn auf längere Zeit fesseln konnte. Woran lag das? Wurden Klinikzeitschriften immer nur von freundlichen alten Damen angeschafft? Die Knappheit an Sportberichten und halbnackten Frauen zeigte, daß der Lesestoff nie von Männern ausgesucht wurde.
    Sie tupfte ihr Gesicht noch ein wenig ab, als sie vor dem Spiegel stand. Der Geruch des Desinfektionsmittels war so stark, daß sie meinte, ihre Augen würden gleich wieder zu tränen anfangen. Das wäre doch klasse, dachte sie grimmig – du gibst dir mit Mühe und Not den Anschein, nicht geweint zu haben, und dann kommst du trotzdem mit heulenden Augen aus dem Klo. Sie drückte sich ein letztes Mal trotzig die Wimpern trocken.
    Ihr Vater war in der Tat ungeduldig geworden, aber er hatte eine Ablenkung gefunden. Er pesterte eine fein gekleidete Frau, die nur wenig älter war als Renie. Sie war bis ganz ans Ende der Couch gerutscht, um Long Josephs Nachstellungen zu entgehen. Als Renie herantrat, schob sich ihr Vater gerade noch ein Stück näher.
    »… ein Mordsradau, kann ich dir sagen. Feuerwehr, Hubschrauber, Krankenwagen …« Er schilderte den Brand in ihrem Wohnblock. Renie mußte leicht grinsen. Vielleicht hatte sie ihm mit ihrem Auftauchen die Geschichte verdorben, wie er die ganzen Frauen und Kinder eigenhändig aus dem Haus getragen hatte.
    »Komm jetzt, Papa«, begann sie, da erkannte sie, daß die Frau Patricia Mwete war, Sokis Mutter. Sie hatten sich seit der katastrophalen Unterhaltung, bei der Stephens Freund urplötzlich einen Anfall bekommen hatte, nicht mehr gesprochen. »Oh, hallo, Patricia«, sagte sie höflich. »Papa, das ist Sokis Mutter. Tut mir leid, daß ich dich nicht gleich erkannt habe.«
    Die andere betrachtete ihr Gesicht, das allen Bemühungen zum Trotz zweifellos immer noch verweint war, mit einer eigentümlichen Mischung aus Furcht und beklommenem Mitgefühl. »Hallo, Irene. Sehr erfreut, Herr …« Sie nickte vorsichtig in Long Josephs Richtung, offensichtlich noch nicht sicher, ob sie befürchten mußte, daß er auf der Couch weiter auf sie zurutschte.
    Renie zögerte einen Moment und wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie wollte Patricia fragen, weshalb sie hier war, aber die

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