Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
merkwürdige Rücksichtnahme, die in Krankenhauswartezimmern geradezu abergläubisch geübt wurde, ließ es nicht zu. »Wir haben Stephen besucht«, sagte sie statt dessen.
»Wie geht’s ihm?«
Renie schüttelte den Kopf. »Unverändert.«
»Man muß so ’nen blödsinnigen Anzug anziehn«, warf Long Joseph ein. »Als wenn der Junge Fieber hätt oder so.«
»Es ist nicht deswegen…«, begann Renie, aber Patricia unterbrach sie.
»Soki ist nur zur Überprüfung hier. Drei Tage, zwei Nächte. Nur Routine.« Sie sagte das letzte trotzig, wie um gleich zu verhindern, daß Renie etwas anderes behauptete. »Aber er fühlt sich so einsam, deshalb komme ich ihn nach Feierabend besuchen.« Sie hob eine Tüte hoch. »Ich habe ihm Obst mitgebracht. Trauben.« Sie schien selbst den Tränen nahe zu sein.
Renie wußte, daß Sokis Beschwerden weder so leicht noch so vorübergehend gewesen waren, wie Patricia bei ihrer letzten Unterredung behauptet hatte. Sie wollte mehr fragen, aber fand nicht, daß es der richtige Zeitpunkt war. »Grüß ihn ganz herzlich von mir. Wir müssen los. Ich hab morgen einen langen Tag vor mir.«
Während ihr Vater den anscheinend recht komplizierten Vorgang des Aufstehens in Angriff nahm, legte Patricia plötzlich ihre Hand auf Renies Arm. »Dein Stephen«, sagte sie, dann stockte sie. Die Maske wohldosierter Sorge war abgefallen, und dahinter kam das blanke Entsetzen zum Vorschein.
»Ja?«
Patricia schluckte und schwankte ein wenig, als wollte sie gleich ohnmächtig werden. Ihr strenges Busineßkostüm schien das einzige zu sein, was sie noch aufrecht hielt. »Ich hoffe, es geht ihm bald besser«, beendete sie ihren Satz halbherzig. »Ich hoffe, es geht ihnen allen bald besser.«
Long Joseph war bereits auf dem Weg zum Ausgang. Renie sah ihm ein wenig besorgt hinterdrein, als ob auch er ein leidendes Kind wäre. »Ich auch, Patricia. Vergiß nicht, Soki von mir zu grüßen, okay?«
Patricia nickte und ließ sich wieder auf der Couch nieder. Ohne hinzuschauen, langte sie nach einer Zeitschrift auf dem Tisch.
»Sie wollte mir was sagen«, sinnierte Renie, während sie auf den Bus warteten. »Entweder das, oder sie wollte mich was wegen Stephen fragen.«
»Was redest du da?« Ihr Vater stieß mit der Schuhspitze einen weggeworfenen Plastikbeutel an.
»Ihr Sohn Soki… ihm ist auch irgendwas zugestoßen. Während er im Netz war. Wie Stephen. Ich hab gesehen, wie er danach einen Anfall hatte.«
Long Joseph blickte zum Krankenhauseingang zurück. »Ihr Junge liegt auch im Koma?«
»Nein. Mit ihm muß irgendwas anderes passiert sein. Aber es hat sein Gehirn angegriffen. Das weiß ich.«
Sie saßen schweigend nebeneinander, bis der Bus vorfuhr. Als ihr Vater auf seinem Platz saß, wandte er sich ihr zu. »Jemand sollte diese Netzleute finden und zur Rede stellen. Jemand sollte was tun.«
Ich tu was, Papa, wollte sie sagen. Doch Renie wußte, daß sie nicht die Art Jemand war, an die er dachte.
> Es war dunkel. Selbst die Sterne schienen so blaß wie Glimmerkörnchen im schwarzen Sand. Das einzige Licht im ganzen Universum, schien es, war das kleine Feuer, das in dem Steinkreis brannte.
Sie hörte Stimmen und wußte, daß es ihre eigenen Kinder waren, und doch waren sie in gewisser Weise auch ein Stamm Fremder, eine Horde, die durch unvorstellbare Länder zog. !Xabbu war einer davon, und obwohl sie ihn nicht sehen konnte, wußte sie, daß er neben ihr saß, eine Stimme im feinen Raunen unsichtbarer Seelen.
Eine tiefere Dunkelheit lag am fernen Horizont, und der Raum, den sie einnahm, war der einzige Teil des Himmels, der keine Sterne enthielt. Es war eine mächtige dreieckige Gestalt, wie eine Pyramide, aber sie ragte unglaublich weit in die Höhe, als ob sie dicht an ihrem Fuß säßen. Während sie auf den großen Schatten blickte, raunten und sangen die Stimmen um sie herum. Sie wußte, daß alle sich der hohen dunklen Masse bewußt waren. Sie fürchteten sich davor, aber auch davor, sie hinter sich zu lassen, denn es war das einzig Bekannte in der ganzen Nacht.
»Was ist das?« flüsterte sie. Eine Stimme, die ihr !Xabbus zu sein schien, gab Antwort.
»Das ist der Ort, wo der Verbrannte lebt. In dieser Nacht kommt er.«
»Wir müssen weglaufen!« Urplötzlich war ihr klar, daß da draußen außerhalb des Feuerscheins sich etwas bewegte, ein Wesen, das in der Finsternis lebte wie Fische im Wasser. Etwas Mächtiges und Nächtiges schlich sich an sie heran, und im ganzen
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